Bridgerton, Zugvögel und das Kleinteilige
Am Wochenende hatte ich ein langes Skype-Date mit einer Freundin, die weiter weg wohnt. Eigentlich wollte ich sie längst besucht haben, aber naja dieses Virus hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wir hätten auch spazieren gehen können, aber ehrlich langsam bin ich es leid, ständig mit einem Knopf im Ohr durch die Gegend zu latschen. Allerdings habe in den vergangenen Tagen auch kaum noch Lust zu telefonieren. Es fällt mir schwer, denn was soll ich groß erzählen? Wie bei vielen passiert einfach nicht so viel. Welch Glück hatten wir lange nicht gesprochen, hatten uns also ein bisschen was zu erzählen.
Absacker fällt noch immer aus
Nachdem wir aber die neuesten Neuigkeiten, die keine sind, ausgetauscht hatten, kamen wir zu dem Schluss, dass wir eigentlich gerne zusammen tanzen gehen würden. Oder wenigstens noch einen Absacker gemeinsam einnehmen. Am Liebsten in einer Bar, in der die Tische um uns herum besetzt sind und überall Leute riechen und reden und wir die Gegenwart der anderen spüren können. Daraufhin beschloss ich mich zu outen und gab zu, dass ich sogar neuerdings Netflix für meine Menschensehnsucht benutzte. Dort gibt es Filme und Serien, wo viele aufeinandertreffen, tratschen, tanzen und trinken, gar flirten. Und das alles auch noch in opulenten, fantastischen Kostümen. Das ist fast wie Karneval. Mir fiel der Name der Serie aber nicht ein. Im nächsten Augenblick riss meine Freundin die Augen auf, fing laut an zu lachen und fiel auf ihr Sofa. Am liebsten wäre ich direkt hinterher gestürzt und hätte mich kichernd mit ihr umher gerollt. Sie hatte, welch Zufall, genau gestern die Geschichte von Daphne und dem heißen Duke von Hastings geguckt. Tja, was war also los mit uns? Sonst würden wir nicht auf die Idee kommen Bridgerton zu gucken. Ist die Serie so gut oder wir einfach sozial so vereinsamt, dass wir genau dort mittanzen würden? Wahrscheinlich ist es wie immer, eine Mischung aus beidem. Ich flüchte mich regelmäßig in andere Welten.
Bibliotheken ausräumen
Häufiger noch als in Serien tauche ich ab in Bücher. Wie eine Verrückte sauge ich alles auf, was mir zwischen die Finger kommt. Als vor drei Wochen die Bibliotheken plötzlich für drei Tage öffneten, fielen wir dort wie verhungert ein und räumten die Regale (fast) leer. Mit zwei prall gefüllten Radtaschen marschierten wir wieder hinaus. Sehr viel Bibi und Tina Hörspiele, Lottaleben und die Magischen Tiere hatten wir im Gepäck. CDs, Bücher, Hefte.
Die andere Radtasche hab ich gefüllt mit allem, wirklich allem, was mir irgendwie ins Auge stach. Ich habe keine Vorauswahl getroffen, sondern einfach eingepackt. Auswählen konnte ich zu Hause immer noch. Es fühlte sich so verdammt gut an. Wir schwebten auf Wolke sieben.
Momentan lese ich auch Bücher, die ich sonst nie angefasst hab. Zum ersten Mal habe ich einen Roman aus der Kategorie New Adult gelesen. Teenie-Schinken, dachte ich immer. Brauche ich nicht, hab ich hinter mir. Aber hey, „After Passion“ von Anna Todd ist ein Bestseller und was passierte? Ich durchflog das Buch in zwei Tagen. Ich konnte es einfach nicht weglegen. Ich war vollkommen gefangen von dieser Teenager-Welt, in der sich alles um das MITEINANDER dreht. Hier hält keiner Abstand oder achtet darauf, wie viele Menschen sich gleichzeitig auf einer Verbindungsparty tummeln. Es ist unwirklich fremd und irgendwie schön. Auf solchen Partys war ich auch mal. Kaum vorstellbar aktuell, dass es so etwas überhaupt einmal gab.
Wirklich bewegt hat mich allerdings das Buch „Zugvögel“ von Charlotte McConaghy. Fantastisch! Wunderbar! Mitreißend! Die Protagonistin hat Wanderfüße, so nennt es die Ich-Erzählerin, und erfährt eine unglaubliche Wandlung. Sie ist getrieben von ihrer Sucht nach dem Meer und dem Abenteuer. In geschlossenen Räumen fühlt sie sich sofort gefangen und muss ständig den Ort wechseln. Immer den Zugvögeln nach. Die Geschichte berührte mich in meinem tiefsten Innern und beschäftigte mich bis in meine Träume.
Ich habe meinen Weg in die freie Arbeit auch deswegen gewählt, weil ich eine große Sehnsucht nach der Welt habe. Und nach dem blauen Meer. Und nach Sonne. Beides habe ich lange nicht gesehen und die Wärme der dicken Gelben fehlt mir unendlich. Mit einem Lehrer-Mann an meiner Seite habe ich auch keine andere Möglichkeit, als selbstständig zu arbeiten, nur so können wir zusammen reisen. Und selber als Lehrerin tätig sein, habe ich probiert, ohne Erfüllung. Am meisten in diesen Corona-Tagen, in diesem zweiten Lockdown, fehlt mir die Welt. Wir haben dieses Jahr noch keine Reise-Pläne. Jammern auf hohen Niveau, ich weiß, aber so ist es nun mal.
Tränen auf dem Küchenboden
Letztens habe ich bei meinem täglichen Küchentanz kläglich angefangen zu weinen. Ein Song von AnnenMayKantereit hat mich erst lethargisch tanzen und dann umfallen lassen. Das Video ist irgendwo im Süden gedreht. Toskana. Südfrankreich. Ich weiß es nicht, aber definitiv ein Ort, wo ich gerne hinfahren möchte. Ich musste heulen, denn Henning May singt:
Aber ich komm nicht klar und da, wo ich schon tausendmal war, will ich heute nicht hin. Weil da immer die gleichen Leute sind. Und weil ich müde bin. Müde, müde, müde bin. Und weil ich müde bin. Weil ich müde, müde, müde bin.
Aber ich bin nicht mehr müde und ich möchte nichts anderes als die gleichen Leute wiedersehen, bitte. Ich musste mich schütteln, um vom kalten Boden wieder hochzukommen. Dahin legte ich mich nämlich. Empfohlen von Teresa Bücker in ihrer Ideen Kolumne freie Radikale. Und es half irgendwie. Denn auf den kalten Fliesen ging es mir noch elender, also richtete ich mich und schnippelte weiter Zwiebeln.
Hart wiederum war auch der Artikel über die Zuversicht von Alard von Kittlitz in der ZEIT. Es passte zu meinem Gefühl. Er schrieb darüber, dass alles noch schlimmer sein könnte. Er hat recht, ich weiß das, wir sehen schließlich deutlich das Licht im Dunklen. Zwei Lektionen lernte ich für mich bei der Lektüre:
Die erste lautete, dass auch ein anderes Leben schön sein kann und das wir nicht zu sehr am Leben vor Corona festhalten sollten. Die Dinge werden sich dauerhaft ändern und daran sollte ich versuchen, etwas Gutes zu finden. Wir werden uns alle verändert haben. Aber das kann gut werden.
Die zweite Lektion erinnert mich an Beppo, den Straßenkehrer aus Momo von Michael Ende. Wir kennen ihn alle. Wir sollten auch bei Corona in kleinen realistischen Schritten denken, schreibt Alard. Also werde ich versuchen, weniger traurig zu sein, sondern froh darüber, dass meine Tochter Montag wieder einige Stunden in die Schule gehen kann. Ich werde mich darüber freuen, wenn ich im Sommer überhaupt eine kleine Reise machen kann und ich werde nicht unglücklich darüber sein, dass ich nicht in vollen Clubs tanzen darf. Stattdessen werde ich dankbar sein, dass ich meine Freundinnen vielleicht wieder besuchen kann (und eventuell umarmen?). Und ich freue mich auf eine zweite Staffel Bridgerton, die Netflix angekündigt hat. Vielleicht schaue ich die mit meiner Freundin zusammen, wenn wir uns wieder sehen.
Ach und von Anna Todd gibt es auch noch drei weitere Bücher aus der Reihe - und Filme. Hach, die kleinen Schritte können so schön sein. Und dann denke ich wieder an AnnenMayKantereit und weiß genau: Ich geh heut nicht mehr tanzen, ich gieße meine Pflanzen und bleib zu Haus.