Wenn dein Körper stillsteht
Ich hatte mein Leben lang Asthma. Seit ich denken kann, bin ich nicht ohne Asthmaspray unterwegs. Ich bin in Ost-Berlin geboren und habe dort meine ersten Lebensjahre verbracht. Mein Asthma begann, als ich drei Jahre alt war. Danach war mein kindlicher Bewegungsdrang gestoppt. Die Luft in Ost-Berlin war häufig sehr schlecht. Manchmal war Smog, da durfte ich dann gar nicht vor die Tür gehen.
Für mich gab es nur wenig und sehr schlechte Medikamente. Ich erinnere mich an ein weißes Pulver. Wenn ich das genommen habe, zitterte ich danach einige Stunden wie ein Drogen-Junkie auf Entzug.
Wenn du Atemnot hast, fährt dein ganze Körper in einen Sparmodus. Es geht ums pure Überleben. Immer war ich auf der Hut, dass ich ordentlich Luft bekomme. Bloß nicht nach dem Bus rennen, lieber ließ ich ihn wegfahren, als das ich dann Atemnot bekam. Nicht fangen spielen, nicht um die Wette rennen. Als Kind konnte ich nicht mal gekitzelt werden, denn manchmal bekam ich vom Lachen keine Luft. Ich durfte kein Eis essen, davon musste ich husten. Sobald ich hustete, bekam ich Atemnot.
Zart und schwach
Wenn du keine Luft bekommst, kannst du kaum sprechen und das Gehen fällt dir schwer. Dein Herz schlägt sehr schnell, denn es versucht panisch überall Sauerstoff hineinzupumpen. Bis ich wieder einigermaßen Luft bekam, vergingen manchmal Stunden. In dieser Zeit saß ich ruhig da, atmete schwer und versuchte irgendwie den fehlenden Sauerstoff in meinen kleinen Körper zu pumpen.
Ich war immer eher ein zartes, schwaches Kind. Zwar mit einem eisernen Willen und Durchsetzungskraft gesegnet, aber noch heute fühle ich mich körperlich unterlegen.
Die ganze Familie leidet
Für meine Eltern war es auch sehr schwer, sie waren verzweifelt, ständig hatten sie Angst, dass ich ersticken könnte. Nachts kam häufig der Notarzt und ich bekam eine Spritze in die Hand. In meiner Erinnerung war es eine fingerdicke Kanüle. Meine Mama erzählte mir, wie ich gezittert und geweint habe. Heute habe ich keine Angst vor Spritzen, die Dinger sind doch so klein.
Wenn du Atemnot hast, bekommst du fast gar nichts mit. Die Kanüle steckte in mir, aber ich hatte keine Angst, ich kämpfte ja um Luft. Nur daran kann ich mich erinnern.
Bis heute haben meine Eltern ständig Angst, bei jedem Schnupfen sind sie in Alarmbereitschaft. Aus jedem Schnupfen kann eine Bronchitis werden, aus jeder Bronchitis eine Lungenentzündung. Ein Therapeut erklärte mir einmal, dass heute die ganze Familie psychologisch betreut wird, wenn die Kinder so starkes Asthma haben. Die Angst vor dem Tod steht immer auf der Türschwelle, sagte er. Das war in meiner Kindheit undenkbar. Auch gab es keine Mutter-Kind-Kuren, aber das ist eine andere Geschichte. Wenn ich darüber spreche, muss ich weinen, ich war auch zur Kur: Da war ich vier, fünf, sechs Jahre alt, immer allein. Heute ist das kaum vorstellbar, vor allem jetzt, wo ich selber Mama bin. Aber meine Eltern waren verzweifelt hilflos, sie hatten Angst, ich ersticke.
Die Wendung mit der Wende
Heute kommt es nur noch sehr selten vor, dass ich tatsächlich keine Luft bekomme. Ausdauersport kann ich nach wie vor nicht machen und wenn das Wetter kalt und feucht ist, wird es eng in meinen Lungen. Mit dem Mauerfall kam Kortison-Spray in mein Leben. Es rettete mich.
Als ich das letzte mal echte Atemnot hatte, konnte ich meiner Tochter nicht vorlesen, weil mir die Luft zum Sprechen fehlte. Ich hatte im Herbst-Urlaub mein Spray vergessen. Du versuchst sehr tief zu einzuatmen, aber das ist der Fehler. Vor lauter Panik vergisst du nämlich alles wieder auszuatmen. Es kommt keine Luft hinein, du atmest und atmest und wirst trotzdem immer schwächer, dir wird schwindelig und dein Herz rast. Deine Hände zittern und du kannst dich kaum bewegen.
Alle Bewegungen werden langsam und wenn es schlimmer wird, kommt aus deinem Inneren nur noch ein Fiepen und Röcheln. Dann schließt du die Augen, weil auch das Sehen zu schwer wird. Eigentlich möchtest du nur noch einschlafen und hoffen, dass es danach besser ist. Aber du schläfst nicht ein, denn vor lauter Panik schüttet dein Körper unheimlich viel Adrenalin aus und an Schlafen ist nicht zu denken.
Obwohl mein Asthma heute beinahe weg ist, habe ich noch immer Angst, dass ich ersticken könnte. Manchmal träume ich davon. Nach der Geburt meiner Tochter vor acht Jahren brauchte ich auf einmal nicht mehr die tägliche Dosis Kortison. Medizinisch nicht erklärbar, sagte meine Ärztin. Und ich solle es genießen, es kann jederzeit zurückkommen. Vor allem auch, weil Asthma im Kopf beginnt. Wenn ich ohne Spray rausgehe, bekomme ich in dem Moment schlecht Luft, wenn mir einfällt, dass ich es vergessen habe.
Ich bin unendlich dankbar, dass ich heute frei atmen kann, immer wieder und jeden Tag aufs Neue. Vor allem jetzt mit Corona. Atmen ist so selbstverständlich, dass wir vergessen, dass ein Leben ohne eine funktionierende Lunge nicht möglich ist.