Gefühle und Emotionen, kann ich!

Meine kreative Bilanz aus Fakten und Emotionen sind nichts für Tageszeitungen.

Vor ungefähr vier Wochen habe ich hier auf meinem Blog einen Text veröffentlicht, der beschreibt, wie sich für mich Atemnot anfühlt. Ein sehr persönlicher Bericht, den ich bei einer Berliner Tageszeitung zur Veröffentlichung einreichte. Die Antwort kam prompt: für die Bedürfnisse einer Tageszeitung zu persönlich. Also habe ich den Text komplett überarbeitet. Hintergründe recherchiert, das persönliche eingekürzt und ein zweites Mal angeboten. Nun sind meine Verdächtigungen zu schwer und müssten über Erinnerungen und Mutmaßungen hinausgehen.

Erst war ich ein bisschen geknickt und hab mich geärgert, mir dann aber eingestanden, dass es schon immer so war. Meine Art zu schreiben scheint nicht gefragt, jedenfalls nicht bei Tageszeitungen. Erst sah ich das als Schwäche, aber nach und nach wurde mir klar, dass genau das meine Stärke ist.

Gefühle und Emotionen so in Worte fassen, dass es echt wird und fühlbar ist. Das kann ich gut. Dabei gibt es eben weniger Fakten. Schade um den Text, dachte ich. Immerhin hab ich Arbeit reingesteckt und mich auch angreifbar gemacht. Aber dann fiel mir ein, dass ich ja diesen Blog habe. Und so gibt es jetzt die Neuauflage von Atemnot, vielleicht ist es eher eine Art „Personal Essay“. Natürlich auch zum Hören!

Atemnot, wie Asthma mein Leben bestimmte

Ich atme viel zu schnell ein, meine Lunge rasselt und pfeift. Ich versuche wieder Luft zu holen, atme aber nicht richtig aus. Ich kann nicht sprechen und schaffe keinen Schritt höher auf der Treppe. Mein Herz schlägt schnell und panisch atme ich immer hektischer. Als meine Mama mich endlich die Stufen zu unserer Wohnung hochgeschoben hat, sacke ich schon im Flur völlig entkräftet zusammen. Es vergingen Stunden, bis ich wieder einigermaßen normal Luft bekomme.

Das Bronchialsystem hat eine Muskulatur. Wird diese gereizt, zum Beispiel durch inhalierte Schadstoffe in der Luft, können sie sich zusammenziehen. Das führt zu anfallsartiger Luftnot, Asthma. Durch die Verengung der Bronchien kann die Atemluft nicht mehr ungehindert ein-und ausströmen. Der ganze Körper wird überlastet und das Ausatmen sehr schwer. Dadurch bleibt immer ein bisschen zu viel Luft in der Lunge zurück, die bläht sich auf und das Einatmen wird ebenfalls erschwert. Je weniger die verbrauchte Luft, die eigentlich wieder ausgeatmet werden müsste, aus der Lunge herausströmen kann, umso weniger Platz verbleibt in der Lunge, um frische Luft einzuatmen. Zwar ist die Lunge mit Luft aufgebläht, dieser zusätzliche Anteil an Luft ist aber nicht atembar. Dies verstärkt die Luftnot.

Die kleinste Anstrengung setzte mich außer Gefecht. Wenn ich Atemnot hatte, fuhr mein ganzer Körper in einen Sparmodus. Es ging ums Überleben. Immer war ich auf der Hut, dass ich ordentlich Luft bekomme. Bloß nicht nach dem Bus rennen. Lieber ließ ich ihn wegfahren, als das ich dann Atemnot bekam. Nicht fangen spielen, nicht um die Wette rennen. Ich durfte kein Eis essen, davon musste ich husten. Sobald ich hustete, bekam ich Atemnot. Mein Körper stand still.

Wohnungsnot, Smog und weißes Pulver

Ich bin in Ost-Berlin geboren und aufgewachsen. Wir wohnten in einem Berliner Altbau: feucht und mit Schimmel durchzogen. Viele Jahre wusste keiner, dass auch die Wand in meinem Kinderzimmer, an der ich schlief, ein einziger blühender Schimmelpilz war. Schimmel ist unsichtbar. Die ersten drei Jahre an dieser Wand trugen wohl ihren Teil dazu bei, dass ich immer schlechter atmen konnte, viel krank war und Ausschlag an den Wangen bekam. Das Schimmelpilze Allergien und damit auch Asthma auslösen können, ist kein Geheimnis. Das es in der DDR eine Wohnungsnot gab auch nicht. Es bestand keine Möglichkeit umzuziehen. Zwar sollte mit Beginn der Ära Honecker 1971 ein Schwerpunkt auf Wohnungsbau gelegt werden. Jedoch entstanden Wohnungsneubauten nur punktuell, nämlich dort, wo industrielle Schwerpunkte errichtet wurden. Die Wohnungsfrage sollte bis 1990 gelöst werden. 3,5 Millionen Wohnungen wollte die SED neu errichten oder von Grund auf sanieren. Das Ziel dieses Programms hieß: „Jedem eine warme, trockene und sichere Wohnung!Der Wohnungsstandard in vielen Altbauten lag nahe an oder unter der Zumutbarkeitsgrenze.

Wir wohnten weder an einem Industriestandort noch wurde unsere Wohnung saniert. Sofern Material vorhanden war, versuchten meine Eltern sich selbst zu helfen. Aber wie fast alles war auch das Mangelware.

Mangelhaft war auch meine medizinische Versorgung. Ich erinnere mich an ein weißes Pulver. Wenn ich das genommen habe, zitterte ich danach wie ein Drogen-Junkie auf Entzug. Für dieses Pulver gab es kein Rezept. Der Arzt bestellte, meine Eltern holten es einfach in der Apotheke ab. Keiner weiß bis heute, was da drin war. „Beim Arzt wurden häufig für verschiedene kranke Kinder dieselben Mundstücke zum Inhalieren benutzt“, erinnert sich meine Mama und schüttelt traurig den Kopf.

Im vergangenen Herbst zeigte das öffentlich-rechtliche Fernsehen einen Film über Medikamentenversuche an DDR-Bürgern. Ein Film, der mich sehr bewegt hat und der mich darüber nachdenken ließ, ob ich nicht vielleicht auch eine Art Versuchskaninchen war. Immerhin konnte ich nach meiner Pulver-Dosis zwar abhusten, aber dauerhaft besser ging es mir nie. Es gibt keine Unterlagen, keine Nachweise, keinen, den ich mehr fragen kann. Meine behandelnde Ärztin habe ich nicht wieder gefunden, weder online noch an ihrem alten Praxisstandort. Allerdings war sie damals auch schon sehr alt.

Mein Asthma begann, als ich drei Jahre alt war

Danach war mein kindlicher Bewegungsdrang gestoppt. Zu der verschimmelten Wand in meinem Zimmer gesellte sich die schadstoffreiche Luft in Ost-Berlin. Vor meinem inneren Auge kann ich noch die grau-gelben Rauschschwaden sehen, die an meinem Kinderzimmer-Fenster vorbei waberten. Ich durfte dann nicht vor die Tür gehen.

Industrienebel wurde Smog in Ost-Berlin genannt. Während es im Westen des Landes bereits Smogwarnungen der Stufe eins gegeben hat, wurden DDR-Bürger nicht einmal darüber informiert, dass so etwas überhaupt existierte.

In einem Artikel aus der Berliner Zeitung las ich, dass Messdaten zu den Schwefeldioxid-Emissionen in der DDR lange unter Verschluss gehalten wurden. Verglichen mit damals ist Berlin jetzt ein Luftkurort, schreibt die Journalistin Lilo Berg. Weiterhin schreibt sie, dass die schlechte Luft körperlich spürbar war: „Am beschwerlichen Atmen, dem stechenden Geruch, der vernebelten Sicht. So mancher Bezirksarzt rief bei Kindergärten und Altenheimen in seiner Region an und empfahl, nicht nach draußen zu gehen. Begründet wurde das von amtlicher Seite nicht.“

Solche Tage vergingen für mich nur sehr langsam. Ich bewegte mich wie eine Schnecke, jeder Schritt war ein Kampf und es gab keine Hoffnung auf Besserung.

Mit gerade einmal fünf Jahren war ich zur Kur in Veli Losinj: Allein mit dem Flugzeug sechs Wochen von zu Hause weg. Ein Stapel Postkarten bringt mich noch heute regelmäßig zum Weinen. Alle Bilder: privat

Mit Lungenentzündung von der Kur zurück

Nachts kam regelmäßig der Notarzt und ich bekam eine Spritze in die Hand. In meiner Erinnerung war es eine fingerdicke Kanüle. Meine Mama erzählte mir, wie ich gezittert und geweint habe. Heute habe ich keine Angst mehr vor Spritzen, die Nadeln sind winzig.

Ich bekam fast nichts mit von dem, was um mich herum passierte. Die Kanüle steckte in mir, aber ich hatte keine Angst, ich kämpfte ja um Luft. Nur daran kann ich mich erinnern.

Ich war immer eher ein zartes, schwaches Kind. Zwar mit einem eisernen Willen und Durchsetzungskraft gesegnet, aber noch heute fühle ich mich körperlich unterlegen. Zwischen meinem dritten und fünften Lebensjahr war ich dreimal zur Kur – natürlich alleine, denn in der ehemaligen DDR gab es keine Mutter-Kind-Kuren.

Einmal kam ich mit einer Lungenentzündung zurück nach Hause. Da wir kein Telefon hatten, wussten meine Eltern zunächst gar nicht, dass ich nicht mehr in der Kureinrichtung war, sondern schon im Krankenhaus.

Als ich das erste Mal mit dem Flugzeug flog, war ich fünf Jahre alt und auf dem Weg zur Kur ins ehemalige Jugoslawien, nach Veli Losinj. Viele Kinder mit Neurodermitis und Asthma fuhren dorthin. Hinterher ging es mir besser. Aber was es bedeutet, mit fünf Jahren sechs Wochen von seinen Eltern getrennt zu sein ist kaum vorstellbar. Ich habe das als Kind nicht verstanden, mich nur gewundert, als ich nach Hause zurückkam. Ich hatte mit meinen Eltern abgeschlossen.

Vor zwei Jahren bin ich mit meiner Familie nach Veli Losinj zurückgekehrt, habe die Badestelle erkannt und das Eingangstor zum Sanatorium. Alles war verfallen und das riesige Gebäude eine Ruine. Auch wenn es für viele Kurkinder ein Segen war, für mich war es schlimm. Wir bewegten uns hinter Zäunen, mussten in Reihen marschieren und die Post war zensiert. Kein Kind schrieb seinen Eltern über die langen dunklen Gänge und die einsamen Tränen in der Nacht.

Der MDR berichtete 2013 über die Kur an der Adria und die DDR Kinder in Jugoslawien. 30.000 fuhren zwischen 1968 und 1989 an die Adriaküste Kroatiens. Sie litten an Asthma, Neurodermitis oder chronischer Bronchitis. Von Schönefeld flogen die Kinder nach Pula, bestiegen dort den Bus und später die Fähre, um auf die Insel Losinj überzusetzen, alles getrennt von Mutter und Vater. Jährlich gab es acht Durchgänge mit jeweils weit über 200 Kindern vom Vorschul- bis zum Jugendalter, die sich inmitten der üppigen mediterranen Vegetation erholen sollten. Viele reisten mehrmals nach Losinj und waren am Ende geheilt.

Ich gehörte 1989 zu einem der letzten Jahrgänge und wohl auch zu einer der jüngsten Reisenden. Gerade fünf Jahre alt geworden, begriff ich nicht annähernd, was dort auf mich zukam. Geheilt wurde ich nicht. Stattdessen bin ich nie ins Ferienlager gefahren und habe bis heute Angst im Dunkeln.

Kortison-Spray rettete mein Leben

Als im Herbst 1989 die Grenzen geöffnet wurden, führte einer der ersten Ausflüge zu einem Lungenfacharzt nach West-Berlin. Ich habe meinen Papa nie wieder so aufgelöst gesehen. Ich wurde untersucht und der Arzt fragte: „Was haben sie nur mit dem Kind gemacht?“ Da weinte mein großer starker Papa lautlos ein paar Tränen und antwortete, „alles, was möglich war.“ Mir wurde Kortison-Spray verschrieben, das gleiche, was auch heute noch bei einer Bronchitis verwendet wird, und innerhalb weniger Tage ging es mir besser. Bekanntermaßen ist Kortison mit Vorsicht zu genießen, aber in meinem Fall war es Gold wert.

Das Spray entspannt die Muskeln der Bronchien und vermindert deren Entzündung. Ich bekam eines für den Notfall und eines zur dauerhaften Anwendung. Herr Doktor Peter Fennel war es, der mich kostenlos behandelte, denn eine Krankenversicherung hatten wir zu dieser Zeit noch nicht.

Von da an ging es bergauf, ich konnte rennen und spielen. Ich durfte sogar, zwar nur bedingt, aber immerhin, am Sportunterricht teilnehmen, als ich in die Schule kam. Aufgrund meiner Schwäche durch das jahrelange Asthma ein Jahr später als geplant.

Die Sorge bleibt

Meine Eltern hatten ständig Angst, bei jedem Schnupfen waren sie in Alarmbereitschaft. Aus jedem Schnupfen konnte eine Bronchitis werden, aus jeder Bronchitis eine Lungenentzündung. Ein Therapeut erklärte mir viele Jahre später, dass heute die ganze Familie psychologisch betreut wird, wenn die Kinder so starkes Asthma haben. „Die Angst vor dem Tod steht immer auf der Türschwelle“, sagte er. Auf den Seiten des Lungeninformationsdienstes steht geschrieben, dass die Angst vor der Atemnot das soziale Leben und den Familienalltag stark beeinträchtigen kann. Das kann ich bestätigen.

Heute kommt es nur noch sehr selten vor, dass ich tatsächlich keine Luft bekomme. Ausdauersport kann ich nach wie vor nicht machen und wenn das Wetter kalt und feucht ist, wird es eng in meinen Lungen.

Am Silvesterabend 2003 habe ich mich selber in die Notaufnahme gefahren. Im Krankenhaus ging alles ganz schnell, ich kam direkt dran, Infusion rein und dann musste ich einige Stunden ausharren, bevor ich wieder nach Hause durfte. Bis ich wieder ganz normal atmen konnte, vergingen zwei Tage. Das letzte mal schlimm Asthma hatte ich vor drei Jahren, wir waren im Urlaub und ich hatte kein Spray dabei. Ich ging zu einem fremden Arzt, bekam ohne Untersuchung, was ich brauchte und konnte meiner Tochter dann wieder vorlesen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich lange keine Atemnot mehr und vergessen, wie schlimm es ist. Noch Wochen später hatte ich Angst, dass das bald wieder passieren könnte.

Obwohl mein Asthma heute beinahe weg ist, habe ich noch immer Angst, dass ich ersticken könnte. Manchmal träume ich davon.

Nach der Geburt meiner Tochter vor acht Jahren brauchte ich auf einmal nicht mehr die tägliche Dosis Kortison. „Ein Wunder,“ sagt meine Ärztin, „medizinisch nicht erklärbar.“ Ich bin unendlich dankbar, dass ich Luft bekomme, immer wieder und jeden Tag aufs Neue.

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