Begegnungen

Ein Rausch über Zungen

Ich schreibe diesen letzten Rausch des Jahres über Begegnungen. Begegnungen mit Büchern. Begegnungen mit Menschen. Begegnungen mit Orten. Denn für mich machen Begegnungen unser Leben aus. Ich beginne mit der Begegnung von Zungen. Sie hing an der Decke, tropfte und raubte mir die Sprache. Denn meine Zunge hing unmittelbar daneben. Ein Abend in der Kantine der Berliner Sophiensæle zeigte mir nicht nur eine ganz neue Form der Meditation, sondern eröffnete auch einen anderen Blick auf Menschen.

Ich traf meinen Kulturfreund Julien. Julien und ich kennen uns schon ziemlich lange. Einst war er Manager einer Band mit dem sehr speziellen Namen „My Baby wants to eat your Pussy“, sogenannte Glam Rocker. Damals wandte ich mich an Julien, weil ich die Band für unser Hochschulradio interviewen wollte.
„Kein Problem, wir treffen dich backstage“, schrieb er zurück und so saß ich einige Tage später zwischen den Musiker:innen und stellte meine Fragen. Während ich das so aufschreibe, wird mit klar, dass ich an dieser Stelle wohl dem Traum von der Bravo-Reporterin meines 14-jährigen ich am nächsten war.

Julien und ich trafen uns nach dem Konzert immer mal wieder. Einmal vergingen auch zwei oder drei Jahre. Wir verstanden uns und hatten immer richtig gute Themen – meistens ging es um Begegnungen und Beziehungen. Wir waren sogar mal in einer großen Gruppe zusammen im Winterurlaub. Dann zog Julien nach Berlin, schon bevor auch ich nach meinem Studienabschluss in die Stadt zurückkehrte.

Von da an begann diese Kultur-Nummer: Konzerte, Theater, Literatur. Und wir teilten die Liebe zu späten nächtlichen „Absackern“. Mittlerweile sind wir ruhiger geworden, treffen uns früher am Abend. Juliens Sohn ist noch klein: die „Absacker“ haben aktuell Seltenheitswert. Aber unsere Gespräche und Kulturausflüge sind immer besonders. So auch in 2023: Wir sahen die Premiere vom „Gelben Gold“ an der Vagantenbühne. Er war bei meiner ersten Lesung aus meinem Roman dabei und wir besuchten das Poesie-Festival. Ein legendärer Abend in der Ada-Bar auf der Neuköllner Sonnenallee. Legendär weil wir beide nie vergessen werden, dass eine junge Frau ein Stück präsentierte, indem es um die Zerteilung des eigenen Körpers ging. Sie metzelte sich buchstäblich selber ab.

Ich weiß noch, wie ich die Bar betreten habe. Ich kannte niemanden und freute mich, dass auch mich niemand kannte. Ich liebe diesen ersten Blick, wenn ich irgendwo ankomme, mich langsam meiner obersten Kleidungsschicht entledige und mich umschaue. Dann werde ich drei Zentimeter größer, straffe die Schultern, werfe mein Haar nach hinten und gucke in die Gesichter der Menschen. Einige halten den Blickkontakt, die meisten nicht. Blickkontakt ist selten geworden.
Eine gute Veranstaltung steht und fällt mit den Menschen. Die Musik kann noch so schlecht sein,- wenn die Leute feiern, als hätten sie den Spaß ihres Lebens, kann ich mitgehen. Das war so als ich 19 war, und an der Kante zur 40 ist es immer noch so.

Wenn deine Zunge dich verlässt

Aber zurück in die Kantine der Sophiensæle. Hier legen sich alle Leute auf Boden, als wir gerade eintreten. Es werden große Sitzsäcke und Matten aus den hinteren Räumen geholt und auch Julien und ich betten uns auf einen gemeinsamen Sack. Dann beginnt die Tänzerin und Choreografin Anne Juren zu erzählen. Wir sollen uns vorstellen, wie sich unsere Zunge im Mund orientiert, die Zähne abtastet und den Gaumen. Ich schweife ab und sehe an die Decke: nackte Rohre, offene Kabel, grauer Beton.

„Your tounge is now lying next to you on the floor.“ Was? Ich komme schlagartig wieder zurück in die Meditation. Aber sprechen kann ich nicht. Meine Gedanken kreisen darum, dass mich meine Zunge verlassen hat und ich dadurch sprachlos werde. Ich spüre Juliens Oberarm an meinem und dann atmet er tief ein und wieder aus. Dabei schickt er eine sanfte Vibration durch meine Schulter, den Hals hinauf, direkt in mein Gehirn.

„Your tounge licks above your feet.“ Meine Fantasie dreht Kreise und ich muss lachen. Mein großer Zeh fängt an zu kribbeln und waren meine Füße vor Kurzem noch kalt, werden sie langsam wärmer. Unsere Zungen wandern nun losgelöst von unseren Körpern die Wände entlang an die Decke und schauen auf die am Boden liegenden Menschen.

„Your tounge licks above the other bodies.“ Ich öffne meine Augen und Julien kichert. Unser ganzer großer Sitzsack wackelt. Ich muss auch lachen und mir wird ganz warm. Dann kann ich nicht mehr folgen, weil sich meine Gedanken komplett verlieren. Erst als unsere Zunge ihren rechten Platz im Mund wieder gefunden hat, bin ich wieder voll da. Julien erklärt mir später, dass seine Zunge über dem Buffet hängen geblieben ist. Er hatte fürchterlichen Hunger.

Ich hingegen habe gelernt, dass diese Art der Meditation für mich möglich ist. Eine kleine Aufgabe bewältigen, während ich daliege und nichts tue. Das hilft mir tatsächlich nichts zu tun. Meistens verliere ich den Faden schon, bevor ich überhaupt zur Ruhe komme. Und außerdem regen Zungen meine Fantasie an.

Zungen in Gedanken

Manche Menschen lecken das Trinkgefäß an, bevor sie trinken. Menschen stecken sich ihre Zungen gegenseitig in den Mund. Die Zunge brauchen wir eigentlich für alles, was wir so im Leben machen. Die Zunge macht uns lebendig. Zungen sind immer feucht und labbrig. Manche sind ledrig. Andere fühlen sich zerfurcht an. Ich denke diesem Abend viel an Zungen. Wenn Julien redet, schaue ich ihm auf die Lippen und beobachte seine Zunge. Ich kann nicht richtig zuhören. Aber ich bin froh, denn meine Gedanken kann er ja nicht sehen.

Hilde Rød-Larsen beschreibt in ihrem Roman „Diamantnächte“ dieses Bedürfnis nach den geheimen Gedanken so:

„Solange ich denken kann, hatte ich das Bedürfnis nach geheimen Freiräumen in meinem Leben. In ein Café am anderen Ende der Stadt zu gehen und zu denken: Jetzt weiß niemand, wo ich bin. Dies hier zu schreiben (…)
Zwei drei heimliche Tage, in denen ich nichts Grenzüberschreitendes machte und die mir trotzdem ein berauschendes Gefühl von Macht gaben. Keiner wusste, wo ich war, keiner wusste, was ich trieb. Dasselbe Gefühl stellt sich mitunter ein, wenn ich mir bewusst mache, dass ich denken kann, was ich will, niemand kann meine Gedanken beherrschen. Oft nicht einmal ich selbst.“

Es ist verrückt, aber ich habe diese Erlebnisse auch ab und zu. Dann weiß niemand, wo ich war und was ich gemacht habe, weil ich es nicht erzähle. Diese Lücken sind meine Geheimnisse. Vielleicht finden Sie sich irgendwann in meinen Romanen – vielleicht zusammen mit der einen oder anderen Zunge.

Jedes mal, wenn ich Julien begegne, erleben wir etwas Besonderes. Wir können uns an fast all unsere Treffen erinnern. An diesen Abenden zwei oder dreimal im Jahr passiert ein bisschen Magie. Die Magie der Freundschaft und der Begegnung. „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…“, schrieb Hermann Hesse einst.

Lasst jede Begegnungen zauberhaft werden, benutzt eure Zungen und bleibt leicht&lebendig, Helen

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