Pornografie für Aufklärung

Ein Rausch über den offenen Umgang mit Sexualität

Die Auseinandersetzung mit Sexualität begann für mich mit meiner Liebe zur Bravo. Schon früh begann ich sie zu lesen, und das ist nicht nur auf mein Alter bezogen, – ich war 12 – sondern auch früh am Morgen. Meine Freundin Tina wohnte am dichtesten am Lotto-Laden, und so ging sie jeden Donnerstagmorgen mit unserem Geld, das wir ihr am Vortag bereits gegeben hatten, ins Zeitungsgeschäft und betrat den Schulhof mit fünf oder sechs frischen Exemplaren. Ich liebte den Geruch, die Farben auf dem dünnen knisternden Papier und das Gefühl, wenn ich das Heft in den Händen hielt. Bis heute beflügelt mich übrigens bedrucktes und beschriebenes Zeitschriften-Papier zwischen den Fingerspitzen.

Nackte Menschen

Während wir in der Schule, in den Pausen und auf dem Hof nach den Artikeln unserer Stars und Sternchen und den dazugehörigen Postern lechzten, freute ich mich auch auf den Nachmittag. Denn dann würde ich allein zu Hause ganz heimlich und sehr ehrfürchtig die Seiten mit der Überschrift „Liebe, Sex und Zärtlichkeit“ durchblättern. Mich interessierten die Geschichten der Anderen, ihre Erlebnisse, ihre Gefühle – und ja, ich schaute mir auch sehr genau die nackigen jungen Menschen an. Sie waren in allen Farben und Formen, Größen und Haaren abgedruckt. Ich bewunderte ihren Mut sehr. Und ich lernte etwas Entscheidendes: Jede:r sieht anders aus.

Die anderen Menschen

Später, während meiner Studienzeit in Bonn, als ich schon lange keine Bravo mehr las, begegnete mir ein anderes Heft mit nackten jungen Menschen: Das Jungs-bzw. Giddyheft. Es muss 2006 oder 2007 gewesen sein, als es ganz frisch auf den Markt kam. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich darauf kam oder wie ich es gefunden habe. Möglicherweise fand das Heft auch mich. Ich glaube, ich habe sogar ein Interview mit einer der Redakteurinnen geführt. Dieses Heft, ein Porno für Mädchen bzw. für Jungs kam mir in den Sinn, als ich über den Text zu Paulita Pappels Buch „Porno Positiv“ nachdachte.

Das Jungsheft ist ein im Selbstverlag erscheinendes Pornoheft für Mädchen bzw. Frauen. Porno heißt es deshalb, weil es nach deutschem Gesetz so deklariert werden muss. In den Heften findet keine harte Interaktion statt, sondern es wird über Themen geschrieben, die nicht in handelsüblichen Magazinen zu finden sind. „Und es gibt natürlich nackte Kerle: Angezogen, ausgezogen und mit Latte“, heißt es auf der Webseite.

Ich begann mein Bücherregal auf den Kopf zu stellen; irgendwo mussten doch noch Ausgaben sein. Zwei kleine Heftchen in A5 versteckten sich zwischen Dörte Hansen und Tillmann Prüfer. Nach wie vor interessieren mich andere nackte Menschen. Die eigene Normalität wird dadurch greifbarer.

Menschen, die Sex haben

Im vergangenen Herbst war ich bei der Buchpremiere von Paulita Pappels Werk „Porno Positiv“. Mit einer Freundin traf ich mich im schönen Neuköllner Heimathafen und wir frönten der Pornodarstellerin und Porno-Produzentin Paulita mit Ehrfurcht und Zuneigung. Ich denke, eine Paulita gehört eigentlich irgendwie in jeden Biologie bzw. Sexualkundeunterricht. Sie schreibt:

„Die Vorstellung, dass der Konsum von Pornografie eine negative Auswirkung auf unsere Sexualität haben kann, ist heute noch weit verbreitet. Oft erschöpft sich die Debatte um Pornos im Beweisen oder Widerlegen dieser These. Selten wird aber diskutiert, was die Zensur von Nacktheit und expliziter Sexualität für eine Wirkung auf uns hat. Was macht es mit uns, wenn uns vermittelt wird, dass Bilder von Sex obszön, falsch oder gar gefährlich sind? Es führt zu einer Entfremdung von unserer eigenen Körperlichkeit und Sexualität. Es löst Gefühle von Scham und Überforderung aus. In ihrer Extremform kann sie zu Gewalt gegen sich selbst und andere führen.“

In einer Welt, in der Kinder schon im Grundschulalter eigene Smartphones und damit meistens auch mehr oder weniger uneingeschränkten Zugriff auf das Internet haben, bereitet mir die Tatsache tatsächlich Sorgen, dass Kinder „Sex, Penis, Vulva, Oralverkehr“ in eine Suchmaschine eingeben. Ich möchte dieses Erlebnis eigentlich all meinen Mitmenschen ersparen. Paulita schreibt, dass die Gesellschaft durch die Nutzung des Internets, vor einer ganz neuen Herausforderung stehe:

„Filme und Internet haben nicht unbedingt neue Probleme geschaffen, sondern bestehende Probleme vervielfacht und sichtbar gemacht. Sexismus und sexueller Missbrauch sind keine Erfindungen des 21. Jahrhunderts. Sie nehmen durch neue Medien neue Formen und Dimensionen an.“

Bevor und während ich das Buch las, sprach ich mit vielen verschiedenen Menschen darüber. Einige winkten ab, „du nun wieder“; andere sagten, es sei mutig, dass ich darüber schreiben will. Aber mutig ist doch vor allem die Autorin des Buches, die sich die Frage stellt, warum sie eigentlich das erste Mal am Set eines Pornodrehs danach gefragt wurde, worauf sie Lust hätte und worauf nicht. Sind das nicht Fragen, die wir uns bei jeder sexuellen Handlung gegenseitig stellen sollten.

Wieder andere waren nahezu erbost, dass ich auf die Idee kam, Pornografie sei gut für die Aufklärung pubertierender Menschen. Aber ich kann nur empfehlen: Lest dieses Buch.

„Pornografie ist nicht das Problem. Das grundlegende Problem ist unser Verständnis von sexueller Selbstbestimmung beziehungsweise sind es die mangelnden Ressourcen, um sexuelle Selbstbestimmung als menschliches Grundrecht zu etablieren, zu schützen und zu fördern.“

Sexualität in der Schule

Im vergangenen Sommer recherchierte ich für die Märkische Oderzeitung am Carl-Bechstein-Gymnasium in Erkner über den hiesigen Sexualkundeunterricht. Hier gibt es in jedem Jahr einige Stunden Unterricht mit einer Ärztin, die die Schülerinnen und Schüler aufklärt. „Ich trenne die Klasse in Jungen und Mädchen und dann können alle Fragen stellen“, erklärte mir die Ärztin. Auch wer sich nicht traue, seine Fragen vor allen anderen zu erläutern, bekommt die Chance, mit der Ärztin allein zu sprechen. „Wir müssen viel mehr über alles reden und ich kann nicht alle Fragen der Heranwachsenden beantworten“, sagte der Biologie-Lehrer und Initiator des Unterrichts.

Ich stellte mir nach dem Interview, bei dem ich übrigens auch Schülerinnen und Schüler befragen durfte, auch eine Frage: Warum ergreifen nicht alle Schulen diese Chance? Was kann denn besser sein, als Fachfragen an eine Fachfrau zu stellen? Wie soll denn echte Aufklärung stattfinden, wenn sich niemand traut darüber zu sprechen und zu fragen!

Fragen ist schwer

Und obwohl ich schon immer viele Fragen gestellt habe, finde ich Sex-Gespräche nicht immer einfach. Als Jugendliche habe ich nicht meine Mama gefragt, obwohl es doch das Naheliegendste ist. Wir haben ein tolles, offenes Verhältnis, aber das ging irgendwie zu weit. Ich spreche gerne über Sex…. Ich frage aus…, aber dieser Text hier hat mich Überwindung gekostet. Ich möchte ehrlich meine Meinung schreiben, ohne mich komplett nackig zu machen. Denn das Thema bewegt mich, weil ich eine Tochter habe, die bald in die Pubertät kommt und (hoffentlich) Fragen stellen wird. Es ist mir wichtig, weil unsere Welt immer sexualisierter wird. Und nicht zuletzt denke ich, dass der offene Umgang mit Sexualität der Schlüssel zur Aufklärung ist.

Paulita stellt gegen Ende ihres Buches die Frage, ob wir nicht mit einer authentischen Darstellung von Sexualität den Porno aus der Schmuddelecke holen und damit Aufklärung betreiben können. Das würde bedeuten, Pornos in der Schule zu schauen. Warum eigentlich nicht, dann müsste ich mir keine Sorgen machen, was Kinder in Suchmaschinen eintippen und vielleicht würden dann auch viel mehr Mädchen ein schönes gewaltfreies erstes Mal erleben, ohne harte Penetration und „rein, raus“, wie es so oft in frei zugänglichen Filmen gezeigt wird. Dann wüssten alle vorher, dass es Kondome braucht und Sex nicht unsichtbar unter der Bettdecke stattfindet.

In diesem Sinne: redet, am besten leicht und lebendig, Helen

Porno Positiv gibt es im Buchladen und die Jungshefte auf www.jungsheft.de

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