Ich bin zerstreut

Ein Rausch über meine Fluchten in andere Leben

Ich tauche gerne in die Leben von anderen Menschen ein. Treffe ich eine neue Person, erst kürzlich passierte mir das auf einer Geburtstagsfeier, dann frage ich gerne: „Wie sieht dein Alltag aus?“ Manche schauen mich dann verwirrt an, aber viele freuen sich auch. Denn Alltag ist das, was wir alle ab und zu verfluchen, aber was wir eben auch tagein tagaus erleben. Jeder kann von seinem Alltag erzählen.

Manchmal wäre ich gerne Teil des Alltags von anderen Menschen. Bei vielen bin ich froh, dass mein Leben ist, wie es ist. Bei besagter Menschin am vergangenen Wochenende dachte ich sofort, mit ihr würde ich gerne morgens einen Kaffee trinken. Sie hatte so eine wache Ausstrahlung, so fröhlich und zugänglich. Und sie erzählte, dass sie eine gescheite Kaffeemaschine besitzt. Auch würde sie sich morgens ein kleines Müsli zubereiten. Neben uns saß noch jemand, er berichtete, dass er früh nur losstürzt und nicht mal Kaffee trinkt. Das tat mir leid; auch da wäre ich gerne einmal dabei. Ich würde ein Croissant kaufen, einen guten Kaffee kochen und ihn dann zwingen morgens kurz innezuhalten und mir von seinen Geistern der Nacht zu berichten. Vielleicht sollte ich da ein Business draus machen? Nach dem Motto: Ich rette deinen Alltag und du lässt mich dafür einen Tag dein Schatten sein.

Natürlich habe ich nicht so oft die Möglichkeit in andere Leben reinzugucken, wie ich das gerne möchte. Denn meistens bin ich ja mit meinem eigenen Alltag gut beschäftigt.

Alle Jahre wieder

Einmal im Jahr bekomme ich dennoch regelmäßig die Chance, meine Freude am Leben der anderen auszuleben. Nämlich dann, wenn es heißt: Ruhrtriennale. Ich besuche Sophie in Dortmund und werde Teil ihres Lebens. Mittlerweile bin ich das vierte Jahr in Folge bei ihr und lebe drei Tage an ihrer Seite. Ich verschwinde in ihrem Sein, breite mich ein bisschen in ihrer Wohnung aus, trinke Kaffee und mache aus den Resten in ihrem Kühlschrank etwas zu essen. Diesmal habe ich erstmal gespült, denn Sophie hat eine verletzte Hand und ist dementsprechend eingeschränkt. So konnte ich gleich noch helfen, das macht den Tauchgang noch schöner. Während ich mich also in Sophies Welt verstreute, verging die Zeit ganz langsam. Ich verschwand mehr und mehr aus meinem eigenen Leben. Zusammen saßen wir im Homeoffice, und die kleine Küche mit dem Fenster zum großen Vogelbusch wurde zu unserem Coworkingspace.

Wenn Sophie ins Büro muss, dann lebe ich in ihrer Wohnung. Ich benutze ihre Yogamatte, gehe mit ihrem Schlüssel ein und aus und lasse mich durch die Dortmunder Nordstadt treiben. Hier ist es ein bisschen wie in Neukölln, nur noch dreckiger. Aber ich mag es irgendwie; einmal im Jahr bin ich Teil dessen. Um den Kiez zu erkunden, machte ich mich auf die Suche nach dem örtlichen Buchladen und lernte Anna kennen.

Nachdem wir gemeinsam Kaffee getrunken hatten, fragte ich sie, welche Bücher sie gerne liest. „Früher habe ich nur Sachbücher gelesen, alles andere hielt ich für Zeitverschwendung,“ erklärte sie mir und ich staunte.

„Aber wie tauchst du dann in andere Welten ein?“, habe ich sie gefragt. Anna hat genickt und berichtet, dass das ein Grund sei, warum sie jetzt auch Romane lesen würde. „Am liebsten über Aktivistinnen“, und ich ergänze: „Am liebsten nur Autorinnen.“ Sie nickt. Wir sind uns einig.

Bleiben oder gehen

Am Abend sitze im Maschinenhaus des Landschaftsparks in Duisburg. Ein sagenhafter Ort, der mich schon letztes Jahr schwer beeindruckt hat. Leider macht das Stück, das wir uns anschauen, keinen besonderen Eindruck. Eigentlich ist es sogar so belastend, dass wir überlegen früher  zu gehen. Aber ich kann das nicht. Ist es nicht eine Frage des Respekts den Künstlerinnen gegenüber, raune ich meiner Freundin zu. Sie atmet laut; ich kaufe in der Pause Prosecco.

Ich schalte ab, als ich mir vorstelle, wie wohl das Leben einer Orchestermusikerin aussieht. Wir sitzen in der dritten Reihe, und ich kann genau in ihre Gesichter blicken; bis auf die zwei Herren an den Schlagzeugen sind alle immer hochkonzentriert. Ich kann mir vorstellen, eine Violinistin trinkt keinen Kaffee, damit ihre Hände nicht zittern? Lieber ein Kräutertee. Der Schlagzeuger dafür umso mehr, weil er ständig zuschlagen muss. Ich kenne einen Schlagzeuger, der trinkt viel guten Kaffee.

Am nächsten Tag kam ein weiterer Freund von Sophie. Vor zwei Jahren war es auch schon so. Verschiedene Menschen wurden in ihrer Wohnung zusammengespült und bildeten eine neue Einheit. Wieder saßen wir gemeinsam in der kleinen Dortmunder Küche, und wieder spazierten wir zusammen zum Hafen und durch die Schrebergartensiedlung. Wieder schliefen wir wie früher auf Klassenfahrt in einem Zimmer. Ich war erst zerstreut, dann aufgelöst und wieder neu zusammengesetzt. Mein Kopf wird dann stiller, ich kann in Ruhe lesen, mir Notizen machen. Die Unruhe beruhigt sich ein wenig.

Ich bin ein Teil der Inszenierung

Aber es bleibt nicht lange ruhig in mir. Denn am Abend lerne ich Guintche kennen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung nennt sie die Königin der Metamorphosen. Ich habe nicht die Möglichkeit in ihr Leben einzutauchen, aber ich werde Teil ihrer Inszenierung in einer alten Essener Zeche.

Ein Soloprojekt, in dem die kapverdische Tänzerin Marlene Monteiro Freitas rund 75 Minuten alleine auf einer ebenerdigen Bühne steht. Sie tanzt, bis mir fast schwindelig wird und meine Hüften schmerzen. Dabei müssten es ihre sein, die sie in den ersten 40 Minuten unablässig im Rhythmus von zwei bebenden Schlagzeugen kreisen lässt. Von harten Trommeln begleitet tanzt sie sich durch eine Choreografie, die alles raus lässt: Schmerz, Trauer, Wut, Freude, Irrsinn, Geburt – das ganze Leben.

Ihre Zunge spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Sie kaut, beißt, spuckt, sabbert. So heftig, dass ich Angst habe, etwas ab zu bekommen. Ich wusste schon, warum ich nicht gerne in der ersten Reihe sitze. Als Guintsche im zweiten Teil ihres Auftritts beginnt sich auszuziehen, braucht sie Hilfe,- und so komme ich in ihr Spiel. Sie bittet mich, winkt mich zu sich. Ich mache sie frei, befreie sie von einem Kleidungsstück, von den Zwängen der Gesellschaft – oder  von einem Gefühl? Vielleicht habe ich es auch falsch verstanden, denn plötzlich scheint sie sich zu schämen. Ich greife nach einem Handtuch am Bühnenrand, das sie aber gar nicht möchte und mir zurückgibt.

Und dann plötzlich strahlt sie. Applaus, die Schlagzeuger stoppen, ich bekomme einen Dankesgruß zugehaucht. Das Licht geht an, ich tauche auf. Morgen kehre ich zurück in mein Leben, aber erst morgen. Ich bin zerstreut bis in die Fingerspitzen, setzte mich neu zusammen, schlafe den Rausch aus und beginne diese Worte zu tippen.

Helen

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Vorsicht, Feingefühl!