„Er hat es nicht immer leicht“

Die ersten Tage zu Hause sind rum und ich frage mich, ja was frage ich mich denn? Alles und nichts irgendwie. Mein Kopf schwirrt. Ich hatte meine fantastische erste Lesung, die mich noch Tage später schweben lies, das Kind hatte Geburtstag, ich habe Freund:innen wieder getroffen, hatte ein kleines Familientreffen und habe unendlich viel gehört und erzählt. Ich weiß ehrlich nicht genau, wo ich anfangen soll. 

Vielleicht versuche ich es so: Meine neunjährige Tochter geht jetzt in die vierte Klasse. Es ist noch gar nicht allzu lange her, da habe auch ich jeden Tag eine vierte Klasse betreten. Und eine sechste und eine fünfte und zwei dritte Klassen. Ich habe jeden Tag über 100 Kinder unterrichtet. Habe mit ihnen Klassenarbeiten geschrieben, bin auf Wandertage gegangen und habe anschließend auf Notenkonferenzen über Empfehlungen diskutiert. All das habe ich gemacht, ohne vorher ein einziges mal vor Schüler:innen zu stehen.

Daran muss ich gerade denken, jetzt wo das Schuljahr beginnt, wo es wieder Quer-und Seiteneinsteiger gibt – so viele wie noch nie, las ich in der Berliner Zeitung. Zudem bleiben trotz der vielen Neueinstellungen Hunderte Stellen unbesetzt. Das heißt wohl, Lehrer:innen dürfen auf keinen Fall krank werden. Bei dem Pensum, das sie leisten ist das nahezu unmöglich. Sind sie doch auch die Berufsgruppe mit der höchsten Burnout-Rate. 

„Schön, dass sie da sind!“

„Brunochen, du hast doch versprochen heute im Unterricht zu bleiben,“ flötete eine nette mittelalte Dame aus dem Sekretariat einem weniger nett schauenden, großen und sehr kräftigen Jungen hinterher. Er scherte sich gar nicht um sie, sondern trottete ihr nur nach und lies sich mit grimmigem Blick auf einem Sofa nieder. „Was soll ich denn bei der alten Schachtel, die brüllt nur rum, wie eine Irre“, entgegnete er und verschränkte die Arme vor der Brust. 

An mich gewandt sagte sie: „Hallo Frau Arnold, schön dass sie da sind. Ich freue mich so. „Das ist Bruno“, sie deutete auf den Jungen und ergänzte sehr leise, „er hat es nicht immer leicht.“ Ich sollte Bruno später näher kennenlernen und auch, warum er nicht im Unterricht saß. Nämlich eigentlich nie, aber darum soll es hier nicht gehen. 

In einem aktuellen Bericht der GEW steht, dass die größte Gruppe (40 Prozent) der neu eingestellten Lehrkräfte inzwischen Lehrkräfte sind, die weder über ein Lehramtsstudium noch über eine berufsbegleitende Qualifikation verfügen. Diese Kolleg:innen sind überwiegend befristet beschäftigt und erfüllen nicht die Voraussetzungen für den Quereinstieg. „Die Senatsverwaltung behandelt diese Kolleg:innen als reine Lückenfüller, bezahlt sie schlechter, befristet sie und macht ihnen keine gezielten Qualifizierungsangebote“, kritisierte Tom Erdmann, Vorsitzender der GEW BERLIN.

Frau Lup (natürlich heißt sie in Wirklichkeit anders, wie Bruno übrigens auch) bat mich also in ihr Büro. Auf einem kleinen Tisch standen Kaffee und Kekse. „Setzen Sie sich.“ Ich setzte mich und dann passierte etwas, was mein zu dieser Zeit etwas angeschlagenes Ego in ungeahnte Höhenflüge versetzte. Frau Lup hatte bereits einen Arbeitsvertrag dabei und ich sollte nur noch unterschreiben. Wir hatten uns erst einmal am Telefon gesprochen und jetzt vor zehn Minuten kennengelernt. Sie lobte meine Qualifikationen und meine offene Ausstrahlung. Ich strahlte.

„Wir brauchen genau solche Menschen, wie sie. Offen und unvoreingenommen und trotzdem voller Tatendrang.“ Ja so eine war ich. Ich war sehr glücklich und vor allem stolz. Immerhin hatte ich noch nie so schnell einen Arbeitsvertrag bekommen. Gut, der war für drei Monate befristet, aber Frau Lup versprach mir, dass dieser auf jeden Fall verlängert wird. Ich bekam in den zwei Jahren fünf neue Verträge, nie eine Verlängerung, denn dann hätte mich die Senatsverwaltung entfristen müssen.

Kopf über 

So wurde ich eine von vielen Lovls, einer Lehrkraft ohne volle Lehramtsbefähigung. Also einer Lehrerin, die nicht befähigt ist zu lehren. Ich tat es aber doch und das schon zwei Stunden nachdem ich Frau Lups Büro verlassen hatte. Sie nahm mich sprichwörtlich an die Hand und wir machten gemeinsam zwei Vertretungsstunden. Ich schaute zu, staunte, notierte und fand die meisten Kinder der 2a „ganz süß“. Einige fielen auf, sie brüllten dazwischen oder schmissen einen Stift durch die Klasse. Aber Frau Lup regelte alles sehr liebevoll und doch mit dem nötigen Ernst, ich war schwer beeindruckt. Das kriege ich hin, dachte ich.

Eine Stunde später stand ich vor der gleichen Klasse und keiner war mehr süß. Frau Lup hatte mich gefragt, ob ich mir das zutraue. Aber sicher, ich war schließlich offen und flexibel, meine Stärken. In der Medienbranche zwei entscheidende Wörter in Bewerbungsgesprächen. Ich also vor die 2a und keiner hörte das Klingeln. Sie rannten wie die Wilden durch die Gegend, nahmen mich überhaupt nicht wahr und das obwohl ich alles wie die Schulleiterin versuchte. Ich war verzweifelt, sollte es so weitergehen, drei Monate? Ich war kurz davor zu heulen, dann besann ich mich und  BRÜLLTE.

Wie eine Irre stand ich da und verschaffte mir Gehör. Bruno kam mir in den Sinn. Ich war jetzt eine von denen. Ich musste hier raus, da war ich mir auf einmal sehr sicher,  dann klingelte es. Ich schaffte noch eine Stunde und am Ende des Tages war ich heiser. Am nächsten Tag sollte ich Bruno begleiten. Einziges Ziel: Er solle im Unterricht bleiben. Diese Aufgabe erschien mir leichter zu bewältigen, aber auch dieses Mal täuschte ich mich. „Seien Sie einfach genau so, wie sie sind“, riet mir Frau Lup, „offen, freundlich und mitfühlend. Eigentlich sind alle unsere Kinder hier ganz lieb.“ Später verstand ich, wenn Frau Lup ein Kind als „eigentlich ganz lieb“ bezeichnete, war es genau das Gegenteil. Dann schellten meine Alarmglocken.

Digitales Endgerät vs. Seife

Ich lernte dennoch dazu, hörte auf zu brüllen und bekam Routine. Ich hatte feste Klassen in Englisch und Deutsch, war sogar zeitweise Klassenlehrerin, aber ich hatte immer noch befristete Verträge und wurde denkbar schlecht bezahlt. Manchmal plante ich Unterricht für eine Zeit, in der ich laut Vertrag gar nicht mehr da gewesen wäre. Ich war ganz gut, aber mir fehlte Handwerk. Mir fehlten pädagogische und didaktische Grundkenntnisse. Ich wollte diese gerne lernen, aber das wurde mir verwehrt. Erst sollte ich (ich bin diplomierte Journalistin) deutsch nach studieren, dann Mathe und am besten noch ein Fach. Englisch, das unterrichtete ich sowieso die meiste Zeit.

Während dieser drei Jahre, ein Jahr pro Fach, sollte ich natürlich weiter an der Schule arbeiten. Ich rechnete: Zwei Jahre war ich da, drei Jahre studieren und dann zwei Jahre Referendariat. Das sogenannte Ref würde ich also starten, nachdem ich bereits fünf Jahre Lehrkraft war. Aber ich brauchte es jetzt, genau in diesem Moment und nicht erst in drei Jahren.

Kürzlich hörte ich ein Interview mit Verena Pausder, sie ist Unternehmerin des Jahres 2020 und hat ein Buch geschrieben. In „Das Neue Land“ beschreibt sie wie unser Leben digitaler, innovativer, flexibler, neugieriger, mutiger und menschlicher werden kann – es mangelt nur an der Umsetzung. Verena Pausder zeigt uns, wie wir das schaffen werden. Sie sprach mit Joe Chialo, er ist Musikmanager und CDU-Bundestagskandidat für Berlin-Spandau und Charlottenburg Nord. In dem Gespräch ging es um digitale Bildung und innovative Ansätze um die Bildungsschere schließen zu können und wie Schule Kinder heute auf das Leben von morgen vorbereitet. Den Link dazu findet ihr am Ende des Textes.

Ich kochte innerlich und fragte mich ernsthaft ob einer der beiden jemals an einer Berliner Brennpunkt Grundschule war? Nur zwei Stunden? Oder besser gleich eine ganze Woche. Ich stellte diese Frage und bekam keine Antwort. „Jedes Kind braucht ein digitales Endgerät“, da waren sie sich einig. Ist das so? Also ich denke es braucht noch viel mehr: Räume, Renovierungen, ausgebildete Lehrkräfte, psychologische Betreuung, funktionierende Toiletten, Klopapier, Seife, Vorhänge an den Fenstern. Die Eltern brauchen Unterstützung. Es muss in die Familien geschaut werden. 

Ich weiß von einer Jugendamtsmitarbeiterin, die so viele Kinder und Familien betreut, dass sie froh ist, wenn sie ein Kind einmal im Jahr sieht. EINMAL IM JAHR. Das muss man sich mal vorstellen. Was soll denn dieses Kind mit einem digitalen Lernraum? Wenn es zu Hause keinen Rückzugsort hat, sich mit drei Geschwistern ein Zimmer teilt, jeden Tag hungrig in die Schule kommt, dann weil es so gierig isst gemobbt wird und deren Eltern quasi nie zur Verfügung stehen. Und wenn sie doch mal da sind, lernt das Kind von ihnen wie nutzlos und dumm es ist, weswegen es dann regelmäßig „nur ein bisschen gehauen“ wird. Diesem Kind wird das Tablet sowieso von den Mitschüler:innen abgenommen. 

Es braucht mehr als nur digitalen Lernraum

Und wie soll denn eine lehrende Mama, die zu Hause selber ein Kind im Grundschulalter hat und weder eine pädagogische Ausbildung noch Erfahrung mit solchen Kindern hat, das aushalten? Ich hielt es nicht aus und ging. 

Ich wünsche mir, dass eine:r dieser Politiker:innen einmal in eine Schule geht, für drei Tage und sich angeguckt, was es wirklich braucht. Vielleicht lässt man sie oder ihn sogar mal unterrichten und dann geht er noch einen Nachmittag in eine Familie, nur um zu helfen. Das digitale Endgerät kann von mir aus mitgenommen werden. Ich empfehle noch Kopfhörer. Aber die großen Mickey-Maus-Kopfhörer um sich vor dem Lärm zu schützen.

Es ehrt euch, dass ihr die Lehrer:innen fortbilden wollt, aber wenn dann die Klassen ohne Lehrkraft dastehen, funktioniert das nicht. Ist ein:e Lehrer:in auf einer Fortbildung, fehlt sie:er in der Schule. Der Unterricht muss vertreten werden. Aber es gibt nicht genügend Lehrkräfte, also fällt der Unterricht ganz aus. Ein Teufelskreis. 

„Wir brauchen Innovationen und die Kinder sollen auf morgen vorbereitet werden“, sagen Joe und Verena in ihrem Gespräch. Aber für jede Innovation muss eine Schule unendlich viele Anträge stellen, Konzepte entwickeln und manchmal ganze (innovative) Arbeitsgruppen gründen, um die Bürokratie zu besiegen. Dafür ist schlichtweg keine Zeit.

Ähnlich ist es bei kleineren Anschaffungen, die den Schulalltag verbessern könnten. Sonnen-Rollos zum Beispiel müssen mit einem aufwendigen Vergabeverfahren beantragt werden. Ein Angebot wird erstellt, dann prüft eine unabhängige Firma alles und beantragt je nachdem den Zuschuss. Häufig werden solche Anträge übrigens abgelehnt.

Die Rollos dürfen nicht einfach von einem Baumarkt kommen, der sie vielleicht sogar spenden würde, weil ein Elternteil dort arbeitet. Stattdessen muss ein passendes Unternehmen gefunden werden. Gibt es keins, gibt es keine Rollos. Folge: Im Sommer sind in einigen Klassenräumen bereits morgens um sieben 35 Grad. Wer soll da digital in genau welchem Lernraum lernen oder lehren?

Aber ich schweife ab. Was ich eigentlich sagen will ist, dass wir keine Innovationen und digitalen Endgeräte brauchen, wenn die Grundlagen nicht gegeben sind. Jetzt zweieinhalb Jahre später, wo ich diese Meldungen in der Zeitung lese, denke ich das erste mal wieder über mein Zeit als Lehrkraft nach und mir laufen beim Schreiben Tränen die Wangen hinunter. Ich hab gerne in der Schule  gearbeitet, ich mochte die Kinder und sie mich. Die Kolleg:innen und allen voran Frau Lup waren unendlich traurig als ich ging. Aber es war zu viel. Ohne Ausbildung und Hilfe im Unterricht hätte ich das keine fünf Jahre länger ausgehalten. Und damit meine ich keine Fortbildungen auf digitaler Ebene!

Liebe Politiker:innen (und ich meine wirklich nicht alle!) macht doch mal die Augen auf und bewertet die Lage individuell. In der Zeit, wo ihr auf den Straßen und Fußgängerzonen steht, Hunderte Plakate anklebt und mit den Menschen Schwätzchen haltet, könntet ihr auch mal einen Blick in die Schulen werfen! Einen richtigen Blick!

In diesem Sinne, haltet die Augen auf und bleibt vor allem eins, leicht&lebendig,

Eure Heli



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Illustration © Sophie Schäfer

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