Anspringen, anspringen, festsaugen

Ein Rausch über (m)ein unveröffentlichtes Buch

Diese Stadt, die nie schläft. Diese Stadt, die dich frisst. Diese Stadt, die schön sein kann, aber meistens ist sie es nicht. Ich kann gar nicht genau sagen, was ich an Berlin so mag. Ich weiß nur, dass ich die Stadt besonders mag, wenn sie mich ansaugt. Wenn sie an meinem Rockzipfel zieht und mir zuzuflüstern scheint: „Komm Heli, komm spielen.“

„Ich bleibe stehen und schaue es mir genau an: Bagdads Backwaren. Wie oft haben wir bei Bagdad gesessen und Kichererbsensuppe gegessen, früh um vier. Der Nachtbus war gerade weg. Ein Blick nach rechts die Köpenickerstraße hinunter und da steht sie, tapfer im Zug, die Nachtbushaltestelle. Wie oft ich dort hingerannt bin, nur um festzustellen, dass der Bus erst in einer halben Stunde wieder kommt. Und dann rauscht er durch bis nach Hause, immer das Adlergestell runter – wenn der Himmel am Horizont langsam von Schwarz zu Blau wechselt. Lande ich heute Nacht auch hier und warte auf den Bus?“

Das ist ein winziger Auszug aus meinem unveröffentlichten Roman, aus dem ich am 4. März lese. Dieser Rausch wird ein RauschVonBuch über ein Buch, dass es nicht zu kaufen gibt. Das es noch nicht gibt. Mehr kann ich dazu allerdings gerade nicht sagen.

Ein Freund fragte mich kürzlich inwiefern denn mein Roman autobiografisch ist. Leider musste ich ihm sagen, dass es das nicht ist. Sicherlich hat die Protagonistin Ähnlichkeiten mit mir, das macht sie schließlich authentisch. Aber was sie tut und erlebt, habe ich mir ausgedacht, oder eben von jemand anderem gehört.

Ich werde nicht müde zu betonen, dass es sich bei meiner Hauptdarstellerin Ellen nicht um mich, Helen, handelt. Und ja sie hat durchaus auch Eigenschaften von mir – aber mich in ihr erkennen, werden nur Lesende, die mich tatsächlich kennen. Für alle anderen ist Ellen einfach nur die Protagonistin eines Romans.

Im Gegenzug stellte auch ich meinem Freund eine Frage. Sollte mein Roman tatsächlich erscheinen, würde es ihm denn etwas ausmachen, dass es eventuell an der einen oder anderen Stelle an ihn erinnern könnte. Schweigen am anderen Ende der Handyleitung. Er zählte dann einige Details auf, die ihm zu eindeutig wären und die er so im Kopf hat. Aber gleichzeitig bemerkte er auch, dass das, was uns verbindet, zwar durchaus besonders ist, aber eben auch gewöhnlich.

Wenn sich zwei Menschen zufällig wieder treffen, „dass ist doch nichts Ungewöhnliches“, erklärte er mir. Und damit hat er es auf den Kopf getroffen, dachte ich, ohne es ihm zu sagen. Denn mein Buch erzählt eine Liebesgeschichte und davon gibt es nun wahrlich genug. Aber was mein Buch auch kann, ist, dich erwischen. Für jede:n sind einmal die Gedanken „so geht es mir auch“ oder „das kenne ich“ dabei. Und das ist es, was mein Manuskript besonders machen. Es ist der Wiedererkennungswert, und natürlich die Leichtigkeit, die einen durch die Geschichte trägt.

Ein Beispiel:

„Mit meinen Augen taste ich die Menschen in der Bar ab, suche Blickkontakt und beobachte die Gespräche. Lachende und ernste Gesichter, trinkende Münder und verkniffene Lippen, helle und dunkle Augen, wallende Locken und Cappis. Das Gesicht unter dem Cappi dahinten kommt mir bekannt vor und dann verschlucke ich mich. Ich kneife die Augen zusammen, aber kann ihn nicht richtig erkennen. Es ist zu dunkel und ein anderer Kopf verdeckt ihn zur Hälfte.“

Ihr wisst, was ich meine!? Man liest und denkt sich, „so habe ich das auch schon erlebt“. Es ist eine Mischung aus Erinnerungen und Fragmenten aus meinem Erlebten und aus dem, was andere erlebt haben und mir erzählten. Alles ähnlich, alles erdacht…

Ich habe das Manuskript vor über zwei Jahren angefangen zu schreiben. Ich war ein Jahr arbeitslos, hatte Zeit und die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. Die Pandemie ließ mich innehalten und ausruhen, dann habe ich andere Sachen gemacht und viel journalistisch gearbeitet. Und nun habe ich mich nochmal getraut und bin es, ein Jahr nachdem ich mit Ellen und Samu eigentlich abgeschlossen hatte, nochmal angegangen.

Ich habe meine Notizen der letzten Jahre durchgeschaut, habe die Artikel, die sich in meiner Merkliste befinden durchgearbeitet, und habe mich mit meinen Freund:innen unterhalten. Mit einigen einigen auch intensiver beraten. Ellen und Samu haben sich ein bisschen verändert, sie sind gewachsen – und doch gleich geblieben. Sie sind realer geworden – und dennoch Fiktion geblieben. Wenn ich an meinem Buch schreibe, werde ich zur Heldin, ich behalte die Kontrolle. Ich bin der Boss über meine Geschichte.

Die Erinnerungen, ob es meine oder die der anderen sind, bleiben so erhalten. Ich gieße sie nur in eine andere Form und erzähle verändert, schreibe sie um oder einfach neu. Nichts ist genau so passiert. Julia Kolbe schrieb kürzlich in der ZEIT: „Erinnerungen sind Geschichten. Sie machen unser Leben aus, jeder erzählt sie anders, es gibt immer verschiedene Fassungen. Man kann sich an Dinge erinnern, die gar nicht passiert sind, wenn man sie nur oft genug erzählt bekommen hat. Menschen können sich an dasselbe Ereignis in unterschiedlichen Versionen erinnern oder eben gar nicht.“

Und tatsächlich ist mir genau das auch schon passiert. Einer Freundin erzählte ich ziemlich am Anfang meines Schaffens von einer entscheidenden Stelle aus meinem Roman und sie nickte nur wissend und fand es gut. Nachdenklich verabschiedete sie sich danach ins Bett. Am nächsten Morgen, ich war bei ihr in Süddeutschland zu Besuch, kam sie schon früh ins Gästezimmer, legte sich mit ihrer Decke neben mich und sagte: „Du Heli, mir ist etwas eingefallen. Das, was du gestern aus deinem Manuskript erzählt, das kam mir so bekannt vor. Kann es sein, dass ich dir das mal erzählt habe?“

Lachend drehte ich mich zu ihr: „Ja na klar, ich dachte, du hast es gleich bemerkt.“ Aber sie schüttelte nur den Kopf, „nein, denn du hast es anders erzählt, schöner. Deswegen habe ich es nicht gleich gecheckt.“ Ich fragte sie: „Ist das ok für dich? Magst du das so?“ Sie stieß mich in die Seite: „Was ist denn das für eine Frage? Natürlich. In deiner Version wird diese skurrile Situation von damals richtig schön.“

„Wir sind wortlos, regungslos. Ich merke, wie ich doch rot werde, aber Samus Ohren tun es auch. Ich sehe es. Und unterhalb seiner Ohrläppchen bekommt er winzige rote Flecken. Er ist nervös, seine Sinne spielen verrückt. Er verliert die Kontrolle und wird durchschaubar. Anspringen, anspringen, festsaugen und den Kopf an seinem Hals vergraben – denke ich – und tue es nicht.“

Und jetzt schreibt mir, wer nicht gerne mal seine Nase an einem Hals vergraben möchte. Dieses Gefühl, dieser Geruch, von Wärme und Zuneigung. Das kann aufregend sein, da passiert etwas im Bauch, vielleicht auch weiter unten. Es kann dem Gegenüber kitzeln, wenn ich es bei meiner Tochter mache oder aber, es fühlt sich einfach nur nach „nach Hause kommen“ an.

Egal in welchem Zusammenhang wir gerne unsere Nase an einem Hals verstecken, es ist ein schönes Gefühl – und es ist leicht. Leicht und wirklich lebendig, Helen


Informationen zu meiner Lesung findet ihr hier.

Den Artikel von Julia Kolbe gibt es unter folgendem Link.


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„Hol die Flöten raus!“