„Ich habe eine Ü.K.T.“

Ich verspreche dir einen schönen Sommer – Erzählungen

Bei so einem Titel kann eigentlich nicht viel schiefgehen – dachte ich und behielt recht. Schön, wenn das so ist. Es ist noch gar nicht lange her, da konnte ich mit Kurzgeschichten nicht viel anfangen. Ich mochte dieses Format irgendwie nicht, was wahrscheinlich meiner unstillbaren Neugier und dem Drang, immer ganz viel und alles wissen zu wollen, geschuldet ist. Am Ende einer Kurzgeschichte ist es nun aber so, dass es nicht weiter geht und das manchmal schon nach wenigen Seiten. Es machte mich nahezu verrückt, keine Chance auf mehr zu haben. 

Nun hat sich irgendetwas in mir geändert oder verändert, jedenfalls bin ich abends immer sehr müde und schlafe schnell ein. Da ich am Liebsten im Bett lese, schaffe ich nur wenige Seiten, manchmal auch nur einige Sätze, bis mir die Augen zufallen. Dann fiel mir ein Erzählband von Judith Herrmann in die Hände, es ist schon älter und trägt den wunderbaren Titel „Sommerhaus, später“. Ja, dachte ich, später möchte ich auch ein Sommerhaus, natürlich am Meer haben, wo sonst. 1998 erschienen, stehen in dem kleinen Büchlein Geschichten vom Sehnen und Suchen in Berlin. Judith Herrmann holte mich nicht nur ab, Brandenburger Landschaften auf eine besondere Art zu entdecken, sondern weckte auch meine Freude an Kurzgeschichten. 

Ich nahm also das kleine Büchlein mit ins Bett, las die erste Geschichte und schlief an. Am folgenden Abend begann ich die zweite Geschichte, da klappte ich nach drei Sätzen meine Lider zu. Am dritten Abend las ich irgendeine Geschichte aus der Mitte und schlief am Ende ein. In drei Tagen hatte ich schon zwei Geschichten gelesen und bin nicht verrückt geworden, obwohl sie endeten. Das Gegenteil war der Effekt, es befriedigte mich ungemein, dass die Geschichten endeten, als ich einschlief. Ab sofort hielt ich Ausschau nach solch einer Art Buch. Ein zweites Werk tauschte ich auf einem Mecklenburger Bauernhof : „Balkongeschichten“ heißt es. Ich will es mir ein bisschen aufheben, weil ich den Drang verspüre, es auf einem Balkon zu lesen, den ich ja nicht habe und in einen Garten passt es nicht. Dafür muss ich jemanden mit einem Balkon besuchen, das ist ganz gut, denn so treffe ich gleich ein paar Freundinnen wieder. Vielleicht lädt mich auch jemand ein, auf seinem Balkon zu lesen…

Meine ganz neue Errungenschaft in Sachen Kurzgeschichten bzw. Erzählungen ist eine Erscheinung aus dem vergangenen Jahr und trägt den wunderbaren, erwartungsvollen und freudigen Titel „Ich verspreche dir einen schönen Sommer“. Meine Hände griffen quasi automatisch danach, es versprach mir einen schönen Sommer, das wünsche ich mir immer. Erschienen ist es im Berliner Trabanten-Verlag. Ein junger unabhängiger Verlag, gegründet im ersten Corona-Jahr vom Lyriker Fabian Leonhard: „Am Anfang stand vor allem der Wille, Lyrik wieder zurück in den Alltag zu holen.“ Wunderbar. In diesem Sommer verschiebt sich der Schwerpunkt auf literarische Romane, insbesondere auf preisgekrönte Bestseller aus dem spanischsprachigen Raum, so steht es auf der Webseite. Mein Sommer verschiebt sich auch Richtung Spanien, wenn das kein Zeichen ist. 

Wie zu erwarten finden sich hier herrliche, schöne, tragische, lustige, traurige Geschichten aus dem Sommer 2021. Ein Sommer mitten in einer Pandemie. Erst war ich ein bisschen skeptisch, wollte ich doch eigentlich nichts mehr von der Pandemie wissen, aber dann fesselten mich schon einige Titel und das Buch wanderte auf meinen Nachtisch. Ich wollte mir Zeit lassen, wollte die Versprechen, die jede Geschichte mit sich bringt, genießen. Aber dann konnte ich das Buch nicht mehr weglegen, habe eine Erzählung nach der anderen durchsuchtet und wollte mehr. 

Ich weiß nicht, welche Geschichte ich zuerst las. Das ist nämlich wirklich schön an so einem Büchlein mit Erzählungen, man kann es durcheinander lesen, die Reihenfolge ist egal. Einfach aufschlagen und los geht’s. Ich las über die Ü.K.T. von Bianca Döring. Trank mit dem Verleger – auch er hat eine Erzählung beigesteuert – Apérol Spritz und roch die Erde. Ich lachte über Onkel Heins wundersame Heilung und erinnerte mich an eine alte Freundin, die beim Universum immer Parkplätze bestellt hat: „Wir finden auf jeden Fall einen Parkplatz Heli“, pflegte sie zu sagen, „den habe ich heute Morgen beim Universum bestellt.“ Was soll ich sagen, mit ihr hatte ich immer einen Platz für das Auto.

Bianca Döring schreibt:
Klaro. Es geht nie ohne Weibertasche („Täschchen“!) aus dem Haus. Aber ich habe nun mal kein Weibertäschchen, ich habe eine
ÜberlebensKampfTasche. Sollte es mich eines Tages von der U-Bahn direkt auf Cursoes Insel verschlagen oder gar in die wochenlange Isolationshaft aufgrund eines in mehrfachen Wellen monate-bis jahrelang um die ganze Welt galoppierenden pandemischen Ausnahmezustandes, wäre das auch noch nicht das Ende. Denn ich habe ja meine Ü.K.T.!

Obwohl ich Bett lag, stand ich noch mal auf und prüfte den Inhalt meiner Ü.K.T.. Sie ist sehr viel kleiner, beinhaltet aber auch das Wichtigste, alles an Ort und Stelle. Bianca Döring schreibt darüber, dass sie ihre Tasche vermisst und sie eigentlich nicht mehr braucht, denn sie gehe ja nirgends mehr hin. Am nächsten Morgen recherchiere ich die Autorin, denn ich möchte ihr schreiben: Liebe Bianca, diesen Sommer brauchst du deine Ü.K.T. wieder!

Wir wohnen in einem alten Reihenhaus, da sind die Nachbarn sehr dicht, vor allem im Garten trifft man sich regelmäßig, mitunter mehrmals täglich. In den vergangenen zwei Corona-Jahren waren sie zum Teil diejenigen, die wir am häufigsten sahen, denn wir konnten sie draußen treffen, ohne spazieren zu gehen. Als unsere Nachbarin kürzlich Geburtstag hatte, ging ich hinüber zu ihr, sie hängte gerade Wäsche auf und umarmte sie. Sie umarmte mich zurück. Das war unser erster Körperkontakt, seitdem wir hier vor vier Jahren eingezogen sind. Warm und innig nahm ich sie in den Arm, sie hat Töchter in meinem Alter, und sie hielt mich auch. Danach gratulierte ich und sagte ihr, wie sehr ich mich freue, sie an unserer Seite zu wissen. Daran musste ich denken, als ich die Geschichte der Nachbarin von Micha B. Rudolph las. 

Ich liebe den Titel dieses Erzählbandes, erwähnte ich das schon? „Ich verspreche dir einen schönen Sommer“ klingt so verheißungsvoll. Ich überlege, ob mir jemand einen solchen Sommer im Frühjahr 2021 versprochen hat und bin mir nicht sicher. Was ich aber weiß, dass im Frühjahr die Schulen noch geschlossen waren und ich mich sehr gefangen fühlte. Der Sommer wurde dann wunderbar, vor allem war ich frei wie selten.

Es lag Gold in der Luft in diesem Sommer. Sie hatte ihrem Mann erklärt, dass sie ein Praktikum im Suppenwagen machen wolle, um hinter das Geheimnis seines Erfolges zu kommen. Das hatte ihrem Mann sofort eingeleuchtet.

Das steht in Daniela Engist Erzählung „Suppe“, die mich richtig gefesselt hat. Sie schreibt über sich selber „Ich bin so ganz oder gar nicht Typ“ und sie studiere immer noch am Leben herum. Ich finde, das ist einer wunderbarer Schluss für diesen ersten ganz neuen RauschVonBuch. Dieser Rausch kommt unregelmäßig, wie eben ein Rausch ist. Er rauscht durchs Leben und ist mal stärker und mal seichter.

Helen

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Es riecht nach Liebe

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Neue Wege auf alten Pfaden