Blick ins Blaue
Ein Rausch zwischen Himmel und Meer
Kaum habe ich mich hingesetzt, klimpern schon meine Lider. Aber wir wollen erst etwas essen und dann schlafen. Also quäle ich mich bis zum Start des Flugzugs und versuche, krampfhaft die Augen offen zu halten. Wir sind seit 3.00 Uhr früh wach, unser Flieger hob um 6.30 ab und ich habe das Gefühl eigentlich gar nicht geschlafen zu haben. Ich war mehrfach schlaflos in der kurzen Nacht und hatte Angst, dass die Wecker nicht klingeln oder wir etwas vergessen haben könnten. Ich bin immer unsäglich aufgeregt und so voller Vorfreude. In Berlin ist alles grau, als ich selbstgebackenes Brötchen mit Ziegenkäse und Salat, wir nennen die schon seit einiger Zeit Bocadillos, langsam vor mich hin mampfe. Auch mein Mädchen kann die Augen kaum offen halten, nur der Gatte schaut beim Essen noch in den Spiegel. Er wird jetzt eine Woche alle Zeitungen verschlingen, die wir dabei haben, und schlafen. Lesen, schlafen, lesen, schlafen. Danach erwacht er und kommt mit uns an, schwingt sich in die Fluten, wird schwimmen und macht flache Witze.
Als ich satt bin, schließe ich die Augen, mein Kopf sinkt gegen die Schulter meines Mannes, er lehnt sich ans Fenster, unser Mädchen stapelt ihre Kuscheltiere auf meinem Schoß und kuschelt sich hinein. Ich falle in einen tiefen unruhigen Schlaf, die Turbinen brummen unablässig vor sich hin, die Stewards und Stewardessen versuchen, Frühstück zu verkaufen und ich träume von Palmen: Das ich vom Balkon aus in die große Palme vor dem Haus klettere, dort befindet sich eine kleine Empore oder eine Art Baumhaus. Von dort oben sehe den Vulkan Teide auf Teneriffa. Es gibt einen kleinen Tisch auf dem Boden und ein gemütliches Kissen. Die Kellner aus der Bar unten gegenüber rufen mir zu, ob ich einen Zumo trinken möchte, ich nicke und schon hängen sie den frischgepressten Orangensaft an einen Seilzug, den ich langsam nach oben ziehe. Der Saft kleckert ein bisschen auf meinen Schenkel und ich erschrecke, denn darauf ist die gleiche Verletzung, die sich meine Tochter eine Woche vor Abflug zugezogen hat.
„Mamaaaaa, du schnarchst“, das Mädchen rüttelt an meiner Schulter, Spucke ist mir aus dem Mund gelaufen und klebt an meiner Wange. „Was ist los, wie geht es deinem Bein? Alles in Ordung?“
„Ja, klar wieso nicht?“, sie ist empört, ich glaube, ich nerve sie ein bisschen mit meiner Sorge. Aber wir hatten echt einige harte Tage. Unsere Tochter war bei einem gemeinsamen Schulabschiedspicknick im Wald auf einen spitzen Gegenstand gefallen und hat sich dabei den Oberschenkel aufgerissen. An ihrem Bein klaffte ein schwarzes Loch, das nicht blutete. Während mein Mann und ein anderer Papa sie zur Straße schleppten, um zum Krankenhaus zukommen, spielte meine Fantasie mir schon die größten Streiche: Ein großes Stück Holz oder ein Metallteil steckt in ihrem Bein, der Muskel ist beschädigt und die Schlagader getroffen. Manchmal verfluche ich in diesen Momenten mein Kopfkino. Es ist nicht angenehm, immer die schlimmsten Szenarien vor Augen zu haben. Zufällig kam gerade ein Krankenwagen (der auch noch leer war) vorbei gefahren, lud uns ein und fuhr – zur Trauer des Kindes – ohne Tatütata und Blaulicht nach Neukölln in die Kinderchirurgie. Wir warteten geschlagene vier Stunden, bis die Kinderchirurgin sich das Loch ansah, unser Mädchen unter Lachgas setzte und die Wunde reinigte. Kein Gegenstand, keine Schlagader, aber das Innere des Schenkels meiner Tochter war exakt erkennbar. Wem das jetzt zu detailliert ist, springt bitte zum nächsten Absatz. Aber ich habe das dringende Bedürfnis hier zu erwähnen, dass grobe Leberwurst auch nicht anders aussieht als das Innere eines menschlichen Oberschenkels. Sechs Stiche später war das Bein geflickt, wir mit den Nerven am Ende und unser Kind müde.
Eine Woche später sitzen wir im Flieger und ich frage mich voller Sorge, wann sie denn wieder auf ihr Bodyboard steigen kann. Sie hingegen nimmt sich in aller Seelenruhe ihr Buch, und ich nicke ein. Flugzeuge haben eine ungemein einschläfernde Wirkung auf mich.
Schon Wochen vor der Abreise war ich nervös. Vor uns liegen eineinhalb Monate auf einer kanarischen Insel. Es ist jetzt nicht so, dass wir noch nie so lange auf Reisen waren, aber dieses Mal ist es anders: Wir werden am selben Ort bleiben. Eine Art Umzug auf Zeit quasi und das nicht irgendwohin, sondern nach Gran Canaria. Wir reisen wie immer nur mit Handgepäck. Was an sich kein Problem ist, aber diese eine Fluggesellschaft hat wirklich winzige Maße für das einzelne Gepäckstück, dass wir mitführen dürfen. Aber am Ende brauchen wir ja auch nicht viel, wir reisen schließlich in den Dauer-Sommer. Und die wenigen warmen Sachen, die wir für den Flug am Körper tragen, werden reichen. Und falls wir doch zusätzlich etwas brauchen, kaufen wir es uns und lassen es da. Denn hier am südlichsten Zipfel Europas werden wir demnächst viel Zeit verbringen.
Für mich wird damit ein kleiner Lebenstraum wahr: „Schreiben und arbeiten unter Palmen“ war immer ein langfristiges und unerreichbares Ziel. Viele Jahre hatte ich Italien im Sinn, aber wo es am Ende ist, war mir egal. Jetzt rückt dieser Traum gefährlich nahe und ich muss dreimal nachschauen, ob ich meinen Laptop und die Ladekabel auch wirklich nicht vergessen habe.
Im Flugzeug wechsele ich ans Fenster, denn ich bin diejenige, die am ehesten einschläft. Ich schaue in den blauen Himmel, unter uns ist das blaue Meer und frage mich, wie beides so unterschiedlich blau sein kann. Auf dem Meer tanzen winzige Schaumkronen, die der Wind hin und her schubst. Ein bisschen wie lose Sterne am Nachthimmel. Ich schlafe wieder ein und träume wirres Zeug von blauen Palmen und grünem Meer, in dem ich nicht schwimmen kann, weil es klebt wie Sahnepudding. Als ich aufwache, hat sich das Wetter verändert. Es ist diesig. Sanfte Schleier und kleine Wattebausche schieben sich über den Ozean.
Dann schaukelt es heftig und mit einem Ruck landen wir. Am Parque Santa Catalina werden wir abgeholt. Meine Eltern strahlen mit uns um die Wette und sehen ganz anders aus als zu Hause in Berlin: bunter, fröhlicher und irgendwie entspannter. Ich schaue in den Himmel und mein Traum fällt mir wieder ein. Ich lache laut, die Palmenwedel schwingen im Wind, dahinter glitzert das Meer und ich suche ganz kurz nach einem Baumhaus. Da weiß ich, dass ich Himmel und Meer gerade dicht beieinander sind. Es fühlt sich ein bisschen an, wie nach Hause kommen. Der Geruch, die Sprache der Leute, der Klang der Vögel und das Hupen der Autos. Die salzige Meeresluft dringt in meine Lungen und ich schmecke die Sonne. Na gut, das bilde ich mir vielleicht ein. Aber das Rauschen des Meeres höre ich deutlich und im nächsten Moment sitze ich schon in einer der Bars und habe einen frischen Zumo vor der Nase.
Genießt den Sommer und bleibt leicht&lebendig,
Helen
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Illustration: Sophie Schäfer