Geht das auch online?

Ein Gedanken-Rausch mit Liebe

Ich empfehle ein Buch. Es ist von Katja Eichinger und heißt „Liebe und andere Neurosen“. An dieser Stelle möchte ich gar nicht viel vorwegnehmen, nur so viel: Es regt zum Nachdenken an – und das finde ich wunderbar. In jedem der zehn Kapitel stehen vorzügliche Anekdoten und herrlich recherchierte Analysen über die Liebe. Während ich las, musste ich immer wieder aufhören und an Geschichten aus meinen Erinnerungen denken. Ich dachte an meine Freundinnen und Freunde und was sie so erlebten. Ich dachte an mich und die Geister aus meinem tiefen Inneren und ich dachte an meine Familie, die mich lehrte und erfahren lies. Manchmal musste ich auch an die Protagonistin meines Romans denken. Ich versuche mal in Worte zu fassen, wie ich das meine.

Aus dem Kapitel Begehren: Dürfen wir das?

„Wir lieben nicht so sehr die Person, die wir leidenschaftlich begehren, sondern vielmehr das Hindernis, durch das wir erst unsere Leidenschaft entdecken und so uns selbst als außergewöhnlich erfahren. Erst durch das Hindernis können wir unsere Leidenschaft wahrnehmen.“

Ich habe einen Roman genau darüber geschrieben, über das Begehren hinter dem Hindernis. Macht das Sinn? Ohne Erklärung wahrscheinlich wenig. 300 Seiten habe ich gefüllt mit der Geschichte von Ellen und Samuel, die sich eigentlich nie liebten, nie ein Paar waren und sich (wahrscheinlich) genau deswegen so begehren. Ellen und Samu gibt es natürlich nicht, sie sind in meinem Kopf entstanden. Ihre Geschichte ist eine von vielen, die ich hörte, erlebte, beobachtete – wer weiß das schon genau. Ellen und Samu treffen nach langer Zeit in einer Kneipe (wieder) aufeinander. Sie wissen nicht, dass der jeweils andere auch dort ist. Und bei ihnen gibt es zwei Hindernisse, die ihr beider Begehren entfacht, auf die ich hier aber nicht weiter eingehen möchte. Schließlich soll das Buch ja irgendwann mal gedruckt werden. Aber den Moment, als das erste Begehren aufflammt, den teile ich:

„Wer ist der Typ da drüben an dem Tisch?“, frage ich Silli halblaut.
„Was? Hast du mit mir gesprochen?“, sie dreht sich zu mir und sieht anscheinend, wie ich immer blasser werde. „Silli, der Kerl da drüben an dem Tisch, kennst du den?“
„Ehrlich Ellen, wen siehst du da schon wieder? Hier sind lauter Tische mit Typen dran.“ Silli hatte ihn offensichtlich nicht gesehen. Gut, ich bin mir auch nicht sicher, ob Silli den, den ich zu erkennen glaube, überhaupt jemals richtig kennengelernt hat.
„Ich muss mal aufs Klo.“ Ich bin plötzlich sehr hektisch und sehr aufgeregt. Ich springe hoch und schmeiße polternd meinen Stuhl um. „Was ist denn mit dir? Hast du ein Monster gesehen?“, Silli guckt mich verwundert an. Aber ich kann nicht antworten, ringe um Fassung und bin mit meinen Gedanken ganz woanders.
„Jetzt bloß nicht die Kontrolle verlieren. Es ist gar nicht klar, ob er es überhaupt ist, und wenn, dann hätte er doch bescheid gesagt, oder?!“, flüstere ich mir selbst verzweifelt zu. Meine Beine zittern, meine Knie sind weich wie Zuckersand. Ziemlich fahrig steige ich über den umgefallenen Stuhl und stolpere fast über meine Tasche, nehme noch einen Schluck Bier und bekleckere mich. Ganz zaghaft gucke ich noch mal in seine Richtung, jetzt erkenne ich sein Profil, er muss es sein. Ich habe sogar das Gefühl, seine Stimme durch den Lärm zu erkennen. Wie heute Morgen im Traum. Leise in meinem Ohr.
Mit wackeligen Beinen gehe ich zum Klo, schaue lieber nicht nach links und rechts, um nicht zu stolpern. Erst als ich bei seinem Tisch vorbeigehe, lasse ich einen kurzen Blick schweifen. Er ist es, oder sieht der nur genauso aus? Es ist fürchterlich dunkel, er lächelt mich an. Und erst jetzt scheint auch er es zu merken. Sein Lächeln erstarrt, seine Augen werden groß. Ich gucke schnell weg. Das bringt mich völlig aus dem Gleichgewicht, meine Beine geben nach, mein Herz pocht im Hals, an meinen Bauch will ich lieber nicht denken.

Aus dem Kapitel Über die Ehe: Was ich heute trage

„Die meisten Bräute tragen immer noch weiß wie Queen Viktoria. Halten fest am Märchen. Kann ich aber auch verstehen, denn ich habe auch in weiß geheiratet. Heute würde ich vielleicht eine andere Kleiderwahl treffen, aber damals dachte ich: Wenn schon, dann richtig! Mein Hochzeitskleid liegt heute in einer Kiste in meinem Kleiderschrank, so, wie ich es damals ausgezogen habe.”

Erst kürzlich zeigte mir eine Bekannte ihr Brautkleid von vor 15 Jahren. Es sah aus, wie es aussehen soll, wie es erwartet wird: Spitze, schulterfrei, langer Rock, oben eng, unten Ballon – aber vor allem war es weiß. Sehr weiß. Ich fragte die Bekannte, ob sie ihr Kleid jemals wieder getragen hat. Natürlich nicht. Ich nötigte sie daraufhin, es doch noch mal anzuziehen. Sie tat es wirklich. Es war ein bisschen eng, aber es passte. Sie fragte mich dann daraufhin, ob ich auch mal mein Hochzeitsoutfit zeigen würde. Klar, sagte ich, nichts leichter als das. Es sieht in etwa so aus wie das, was ich heute trage. Ihre Augen wurden daraufhin groß und ich lachte. Tja, so war das. Einer der romantischsten Tage meines Lebens.

Alles begann um Weihnachten herum, als mein Papa meinen (damals noch) Freund zur Seite nahm und sagte: „Mensch Rob, wenn du jetzt richtig verdienst, dann guckt doch mal, ob ihr das Ding nicht doch unterschreibt.“ Bisher hatten wir übers Heiraten noch nicht gedacht, schließlich hatten wir mit unserem Überraschungskind genug „Für immer“. Den anderen wirst du ja doch nie wieder los, dafür brauchen wir keinen Trauschein, sagten wir uns. Später am Abend saßen wir mit einem Glas Wein am Computer und gaben bestimmte Daten in einen bestimmten Rechner ein. Jetzt wurden unsere Augen groß, denn das lohnte sich wirklich. Und obwohl wir unsere Zweifel an diesem doch sehr veralteten Konzept der Ehe hatten, fragten wir uns, ob wir uns nicht gleich online zum Heiraten anmelden könnten. Natürlich nicht, man muss ja erst beim Amt vorsprechen und kann dann einen Termin machen. So umständlich. Aber wir fügten uns und so saßen wir an einem schönen Maitag im schönsten Standesamt Berlins (Kreuzberg natürlich) bei einem sehr sympathischen Verwaltungsmitarbeiter und fragten, wie lange wir jetzt noch auf ein Heiratsdatum warten müssten.

Er schüttelte den Kopf und sagte uns, vor einem halben Jahr ginge gar nichts. Das war uns eindeutig zu lange. „Wir brauchen auch nichts weiter“, erklärten wir und zeigten auf unser Mädchen (sie war gerade drei geworden) „das wichtigste Versprechen haben wir bei uns und einen Ring wollen wir sowieso nicht.“ Der Standesbeamte schaute uns an und schlug vor: „Oder wollt ihr gleich?“ Daraufhin schauten wir uns tief in die Augen, nickten einstimmig und trafen uns 15 Minuten später wieder in seinem Büro. Am Späti gegenüber hatten wir uns noch schnell zwei Piccolos und eine Limo für die kleine Lady geholt. „Wir gehen ins Trauzimmer, in meinem Büro ist es ja doch nicht ganz so schön“, sprach der Beamte lachend. Nur Anstoßen dürfen wir da nicht, weil an dem Tag offiziell keine Trauungen sind und er dann Ärger mit der Reinigungskraft bekäme.

So rückten wir die Stühle an den Altar, es wurden drei bis fünf romantische Sätze zum Besten gegeben und zwei Unterschriften später waren wir „Mann und Frau“. Haha so einfach geht das. Auf Holzbänken vor dem Amt tranken wir Sekt aus Pappbechern und freuten uns über die staunenden Gesichter der Vorbeigehenden. Von dem Geld, was wir gespart haben, sind wir in den Urlaub gefahren und haben es bis heute kein einziges Mal bereut. Es war einer der bewegendsten Tage unseres Lebens, weil wir uns einig waren und weil es zu 100 Prozent wir waren. Dieser Tag und diese Unterschriften waren nur für uns.

Als gemeinsames Zeichen haben wir uns ein Tattoo stechen lassen, eine Schneeflocke, weil wir uns im Winter bei Schneefall kennenlernten.

Aus dem Kapitel Zweisamkeit: Red mit mir

„Ohne das Kommentieren von inneren Welten bleibt man einander fremd, wie damals Thorsten und ich. Oder aber eine Entfremdung tritt ein. Das setzt allerdings ein gewisses Grundinteresse an der Seelenwelt des anderen voraus, beziehungsweise die Fähigkeit zuzuhören.“

Mein Mann und ich brachten unsere Tochter gemeinsam zur Musikschule, da trafen wir eine Freundin. Sie schaute uns ziemlich entgeistert an und fragte, was wir denn jetzt die ganze Zeit tun würden, so zu zweit? Wir erklärten, dass wir spazieren gehen. „Und was macht ihr dabei?“ Wir unterhalten uns, sagten wir lachend und sie erwiderte etwas geknickt, dass sie das mit ihrem Mann nicht könne.

Tatsächlich gehen wir natürlich nicht ständig zusammen spazieren, das gibt ein Alltag einfach nicht her. Aber wir quatschen in der Tat viel. Jetzt kann das an unseren Berufen liegen oder aber einfach daran, dass wir uns gerne austauschen, dass wir uns füreinander interessieren und mögen, was der andere tut. Ich finde die Geschichten aus dem Tag meines Mannes (meistens) spannend und wir ergänzen uns und legen Wert auf die Meinung des anderen. Das ist natürlich nicht immer leicht. Zu Beginn unseres Familienlebens haben wir uns regelrecht zur Wochenplanung und zum Austausch verabredet, meistens sonntags, wenn das Mädchen im Bett war. Heute ist es ein Selbstläufer, wir landen dann abends am Kamin, mit Buch und Zeitung und reden über das, was wir lesen. Manchmal lesen wir dann nicht mehr viel, weil wir in einen regelrechten RedeRausch verfallen. Oft denke ich dabei an einen alten Song der Band Die Ärzte. Er heißt „Red mit mir“, eine Textpassage ist mir besonders im Kopf geblieben:

„Ich nicke, wo es sein muss, und ich lausche dir gebannt. Ich bin völlig deiner Meinung, du liegst wirklich ganz weit vorn. Ich häng' an deinen Lippen und du kaust an meinen Ohren. Ich hab eh nichts besseres vor, also geh bitte ins Detail. Es ist ja grad mal Mitternacht und morgen hab ich frei. Du suchst nach Mr. Listen? Er steht genau vor dir. Lass mich dein Therapeut sein, bitte red' mit mir.“

Das Album heißt Planet Punk und erschien 1995. Ist lange her, aber was die Kommunikation in meiner Beziehungen angeht, ist dieser Song für mich sehr wichtig. Schweigend könnte ich keine Beziehung führen. Danke an meinen ersten Freund S., der oft zu mir sagte, wenn ich traurig war “red mit mir” und Die Ärzte zitierte.

Weitere Kapitel in Katja Eichingers Neurosen heißen übrigens Leidenschaft, Lust, Verlieben, Familie, Selbstliebe, Freundschaft, Tod und Trennung – und sie sind alle lesenswert. Das Buch ist eine absolute Empfehlung, denn Katja öffnet ihr Herz und tat es mit meinem auch. Sie brachte meinen Geist in Wallung, befreite meine Gedanken zu Themen, über die ich in letzter Zeit wirklich zu wenig nachgedacht habe. Und vor allem regte sie Überlegungen an, die in meinem Kopf schwirren, die vielleicht mal ans Tageslicht sollten.

In diesem Sinne: Nehmt den Herbst und lest, denkt, liebt und das alles leicht&lebendig,
Helen

PS: Kauft das Buch im Buchladen eures Vertrauens und tauscht euch mit der Buchverkäuferin aus, empfehlt es auch ihr :)


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